China hat nicht wie erhofft die Marktwirtschaft und die politischen Werte des Westens übernommen. Im Gegenteil: Amerika kopiert Chinas Merkantilismus und setzt seine Verbündeten unter Druck, dasselbe zu tun – um Chinas wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg zu verhindern. Für The Pioneer analysiert der USA-Experte Josef Braml die sino-amerikanische Rivalität und deren Auswirkungen für Europa.
Chinas Einfluss in Europa ist gewachsen, da China als Export-Markt für Deutschland, Skandinavien und andere Länder immer wichtiger geworden ist. Doch schaut man auf die politischen Verflechtungen, so erscheinen die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten noch immer von größter Bedeutung. Sie wurden sogar noch stärker, als sich die Vereinigten Staaten und Europa zusammenschlossen haben, um Russlands Invasion in der Ukraine entgegenzutreten.
Außerhalb des Westens hat China jedoch die früheren Rollen der Vereinigten Staaten und Europas übernommen. Selbst im Nahen Osten versucht China, größeres wirtschaftliches und diplomatisches Gewicht zu erlangen. Im März 2023 vermittelte Peking eine Annäherung zwischen den Erzfeinden Saudi-Arabien und Iran. Beobachter in Washington waren überrascht von den Schritten eines ihrer engsten Verbündeten und befürchteten, dass Riad in Pekings Lager überlaufen könnte.
Saudi-Arabien ist ein wichtiger Erdölproduzent und Partner der USA seit Präsident Franklin D. Roosevelt am 14. Februar 1945 den saudischen König Abd al-Aziz Ibn Saud auf dem amerikanischen Kreuzer USS Quincy traf und eine der wichtigsten geopolitischen Allianzen nach dem Zweiten Weltkrieg begründete. Nicht zuletzt wurde mit dem „Sicherheit für Öl“-Deal auch die Dollar-Dominanz im Weltfinanzsystem etabliert.
Chinas „Vordringen“ in Afrika hat auch dort zu einem Rückgang des westlichen Einflusses geführt. Außerdem überwiegt der chinesische Einfluss den der USA in weiten Teilen Südostasiens und hat auch in den ehemaligen Sowjetstaaten zugenommen, womit die Vorreiterrolle der USA in Südamerika, Westeuropa und Ostasien untergraben wird.
Bereits 2020 übertraf Chinas Einfluss jenen der Vereinigten Staaten in 61 Ländern. Gründe dafür sind der wachsende Handel, Entwicklungshilfen und die zunehmenden Investitionen, was dazu führt, dass immer mehr Länder stärker von China als von den Vereinigten Staaten abhängig sind.
Chinas Einfluss durch Handel und Investitionen
Wesentlich für die Attraktivität Chinas sind sein Handel und seine Investitionen. Vor dem Jahr 2000 waren die USA noch an der Spitze des Welthandels, wobei über 80 Prozent der Länder mehr Handel mit ihnen trieben als mit China. Bis 2018 ist diese Zahl stark gesunken, auf nur noch 30 Prozent, weil China mittlerweile in 128 von 190 Ländern die Spitzenposition eingenommen hat. Waren die Vereinigten Staaten ehedem der wichtigste Handelspartner für mehr Länder als jede andere Wirtschaftsmacht, wurden sie nun von China verdrängt. Seitdem hat China seinen Einfluss ausgeweitet, vor allem durch Handel und Investitionen.
Mittlerweile sieht Washington Peking als ebenbürtigen Konkurrenten, wenn nicht sogar als Rivalen. Allzu lange ignorierten die amerikanischen Politiker die offensichtliche Tatsache, dass die Globalisierung – die sie in den 1990er Jahren gepredigt hatten – nicht nur den Vereinigten Staaten und dem Westen Auftrieb gegeben hatte. Es wurde deutlich – was viele Politiker immer wieder leugneten –, dass die Welt multipolar geworden war.
Chinas Innovationsfortschritte verunsichern die USA
In den letzten Jahren war Washington auch immer wieder überrascht von Chinas Innovationsfortschritten. Vor allem im Technologiebereich hat China Vorteile. Ohne die im Westen geltenden Datenschutzbeschränkungen sind Datensätze in China leichter für die Nutzbarmachung und Auswertung durch Tech-Unternehmer verfügbar. Dies ist besonders wichtig für die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI), bei der Algorithmen mit riesigen Datenmengen getestet und verfeinert werden müssen. Chinas 855 Millionen digitale Verbraucher gehören laut einer Studie von McKinsey zu den eifrigsten Nutzern von Mobiltelefonen und sozialen Medien weltweit. China ist im Bereich des mobilen Bezahlens führend und forcierte die KI-Entwicklung und den Ausbau einer nationalen digitalen Yuan-Währung.
Der Durchbruch der Firma Huawei in der 5G-Kommunikationstechnologie war der Weckruf für die Trump-Administration. Die US-Industrie hatte nichts, um damit zu konkurrieren, also versuchten die Vereinigten Staaten, andere Länder daran zu hindern, Huawei-Technologien zu kaufen. Die Vereinigten Staaten warnten ihre Verbündeten und Partnerländer vor den Sicherheitsproblemen, die auftreten würden, sollten sie Huawei-Technologie kaufen und installieren, um Chinas technologischen Fortschritt zu begrenzen.
Wenn irgendetwas darauf hindeutet, dass sich die Vereinigten Staaten zu einer „Status quo“-Macht entwickelt haben, weg von ihrer bisherigen progressiven Haltung, anderen zu helfen, dann diese Tatsache. Nach den gelungenen Versuchen der USA, anderen Staaten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Krisen zu helfen, etwa mit dem Marshallplan, um das vom Krieg zerrüttete Europa wiederaufzubauen, und den Bestrebungen nach dem Kalten Krieg, die Globalisierung voranzutreiben, um die Lebensstandards insgesamt anzuheben – „to see all boats rise“ –, geht es in der heutigen Wagenburgmentalität vielmehr darum, sich vor allen Konkurrenten zu schützen.
Im globalen Wettbewerb der Systeme scheinen seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 einige Autokratien und ihre gelenkten Volkswirtschaften erfolgreicher zu sein als westliche Demokratien und soziale Marktwirtschaften. Aber auf lange Sicht wird ihre grundlegende Qualität, das frei entfaltete kreative Potenzial ihrer Bürger und Unternehmen, demokratisch konstituierte Gesellschaften besser in die Lage versetzen, sich anzupassen und zu verändern, neuen globalen Herausforderungen zu begegnen und die internationale Ordnung nach westlichem Vorbild aufrechtzuerhalten.
Inzwischen ist dieses Selbstbewusstsein jedoch verloren gegangen: China hat nicht wie erhofft die Marktwirtschaft und die politischen Werte des Westens übernommen, sondern im Gegenteil, die westliche Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, kopiert Chinas Merkantilismus und setzt seine Verbündeten unter Druck, dasselbe zu tun – um Chinas wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg zu verhindern.
Dr. Josef Braml ist USA-Experte und European Director der Trilateral Commission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens. Zuletzt erschien beim Verlag C.H.Beck sein Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“.