War Russlands Überfall auf die Ukraine nur der Anfang? Kommt bald der noch größere Krieg? Ein Krieg zwischen China und den USA? Ein Krieg, der sich an Taiwan entzündet? Wie können wir verhindern, dass die politischen Führungen dieser Welt als „Traumwandler“ in den Dritten Weltkrieg schlittern? Dieser von The Pioneer veröffentlichte Text ist ein Vorabdruck aus: Josef Braml und Mathew Burrows, Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern. Das Buch erscheint am 12. Oktober im Verlag C.H.Beck.
Die heutige Krisenzeit erinnert in beunruhigender Weise an die Zeit vor der „Urkatastrophe“, die den Niedergang Europas als dominierender Kontinent in der Weltpolitik beschleunigte. Der australische Historiker Christopher Clark beschrieb in seinem Buch „Die Schlafwandler“ wie Europa 1914 in den Krieg zog.
Kritiker sind der Meinung, dass die Europäer keine Schlafwandler gewesen seien, sondern „Träumer, die sich nationalen Ruhm, Macht und Erlösung erhofften – Träume, die sie kaum verstehen konnten und die zu Albträumen werden würden“.
Ob Schlafwandeln oder Traumwandeln, der Beginn des Krieges war die Folge einer Kette von Entscheidungen verschiedener Akteure, die keineswegs unvermeidlich waren.
Die unendliche Geschichte?
Deshalb sind, wie Clark zurecht mahnte, ähnliche Eskalationen auch in den heutigen Krisen denkbar. Die Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie könnte sich reimen, sollten die rivalisierenden Weltmächte von heute in einen Krieg „hineinschlittern“, wie es die europäischen Mächte 1914 taten, um den berühmten Ausdruck von David Lloyd George zu zitieren, der im Dezember 1916 mitten im Ersten Weltkrieg zum britischen Premierminister gewählt wurde.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion schienen die Rivalitäten der Weltmächte für immer beendet zu sein und manche Beobachter diagnostizierten sogar das „Ende der Geschichte“. Die entstehende neue Weltordnung nach 1990 wurde als „Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als finale Form der menschlichen Regierung“ charakterisiert, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bekanntlich formulierte.
Auch wenn selbst die idealistischsten Köpfe nach dem zweiten Einmarsch Russlands in die Ukraine seit Februar 2022 aus ihren postsowjetischen Tagträumen vom „Ende der Geschichte“ erweckt wurden, könnte es sein, dass sie bereits „traumwandelnd“ unterwegs sind in den nächsten Albtraum.
Im Februar 2023 sah UN-Generalsekretär António Guterres die Aussichten auf einen Frieden in der Ukraine schwinden, und warnte vor einem „größeren Krieg“: „Die Chancen auf eine weitere Eskalation und Blutvergießen wachsen“, sagte er in einer Rede vor der UN-Generalversammlung. „Ich fürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg. Ich fürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“
Eine fatalistische Stimmung
Es herrscht eine fatalistische Stimmung innerhalb vieler westlicher Eliten, die Angst vor einem bevorstehenden Krieg mit China, als ob der Ukraine-Krieg signalisiert hätte, dass wir uns auf einen noch größeren manichäischen Konflikt vorbereiten müssen, über den wir keine Kontrolle haben.
Ende 2022 stimmte in einer Think-Tank-Umfrage unter überwiegend in den USA ansässigen Experten eine überwältigende Mehrheit von über 70 Prozent folgender Aussage zu: „Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird China versuchen, Taiwan mit Gewalt zurückzuerobern.“ Kurze Zeit später, am 1. Februar 2023, schrieb der neue Kommandeur des US-Air Mobility, General Mike Minihan, in einem an die Medien durchgestochenen Memo: „Ich hoffe, ich liege falsch. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir 2025 kämpfen werden.“
General Minihan erklärte seine Einschätzung wie folgt: „Xi hat sich seine dritte Amtszeit gesichert und seinen Kriegsrat im Oktober 2022 eingesetzt. Die Präsidentschaftswahlen in Taiwan finden 2024 statt und werden Xi einen Grund bieten. Die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten finden im Jahr 2024 statt und werden Xi ein abgelenktes Amerika bieten. Xis Team, die Begründung und die Möglichkeit sind im Jahr 2025 alle gleichzeitig vorhanden.“ Sollte es zu einem Gegenangriff der USA kommen, würde das Air Mobility Command eine entscheidende Rolle spielen.
Und Jim Stavridis, ein pensionierter Admiral der U.S. Navy und derzeitiger Dekan der Fletcher School of Law and Diplomacy an der Tufts University, warnt: „Sollten die USA und China in einen konventionellen Krieg schlafwandeln, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem nuklearen Schlagabtausch eskaliert, erheblich. Es ist unwahrscheinlich, dass zwei Großmächte, die sich im Kampf gegenüberstehen, den Einsatz taktischer Atomwaffen vermeiden, zumindest auf See. Sobald diese Schwelle überschritten ist, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem viel umfassenderen nuklearen Konflikt. Denken Sie an 1914 und die einsatzbereiten Atomwaffen.“
Ein Weckruf für die „Traumwandler“
Für die Vereinigten Staaten ist die „militärische Option“ allzu oft die naheliegendste. Wie unsere Vorgänger aus der Zeit des Ersten Weltkriegs könnten wir in einen großen Konflikt der Supermächte „traumwandeln“ – einen Dritten Weltkrieg.
Ein besseres, aber nicht ideales Szenario, ein ausgewachsener Kalter Krieg, lässt sich bereits beobachten. Die Rückkehr der globalen Machtpolitik hat den westlichen Traum vom „Ende der Geschichte“ und dem „ewigen Frieden“ beendet.
Gleichwohl haben sich die letzten drei Jahrzehnte für uns und andere als Segen erwiesen. Eine völlige Abkehr von der Globalisierung hin zur Konfrontation mit all jenen, die unsere Werte nicht teilen, etwa China, mag unsere moralische Integrität sichern, aber nicht den materiellen Erfolg beziehungsweise das Überleben unserer Zivilisation für zukünftige Generationen.
Wenn wir von diesem neuen Kalten Krieg, der uns bereits beeinflusst, in einen heißen Krieg abdriften, riskieren wir, die Grundlagen der historischen Erfolgsgeschichte des Westens und der Welt der letzten drei Jahrzehnte zu zerstören.
Drei Schlüsselfaktoren, die unsere Zukunft beeinflussen
Allerdings können wir die zugrundeliegenden Triebkräfte, die uns in eine so negative Zukunft treiben, auch beeinflussen. Es gibt drei Schlüsselfaktoren, die hierfür bedeutsam sind: Inwiefern der Ukraine-Krieg gelöst oder ungelöst bleibt, wird die Weltordnung maßgeblich verändern. Ein gerechtes Friedensabkommen, das zu einer stabileren europäischen Ordnung führt, würde einen Präzedenzfall für die friedliche Beilegung von Differenzen zwischen den USA und China schaffen und die Entschärfung des neuen Kalten Krieges ermöglichen.
Der zweite Faktor ist die derzeitige globale Konjunkturabschwächung, die den Nationalismus anheizt, der bereits vor der Pandemie einsetzte und den inneren Zusammenhalt in fast allen Industrie- und Entwicklungsländern beeinträchtigt hat. Wie schon in den europäischen Gesellschaften in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg werden die Gefühle des Umbruchs und des Verlustes, insbesondere in der heutigen westlichen Mittelschicht, schwer rückgängig zu machen sein, aber die Entkopplung von China und die Abschaffung der Globalisierung kann darauf nicht die Antwort sein.
Schließlich sind wir drittens weit davon entfernt, den Klimawandel in den Griff zu bekommen, eine beispiellose Herausforderung, die die Existenz der am stärksten gefährdeten Länder und Arten bedroht. Ein besseres Verständnis jeder dieser Kräfte und dafür, auf welche Weise sie diese verschiedenen Szenarien herbeiführen können, ist der erste Schritt, um einen besseren Weg in die Zukunft zu ermöglichen.

Es ist höchste Zeit, dass wir mit dem „Traumwandeln“ aufhören und uns auf die Realitäten konzentrieren, einschließlich des naheliegenden Potenzials zur Selbstzerstörung. Dies ist eine Krise, die über unser aller Zukunft entscheidet: Sie kann uns auf eine neue Ebene des gegenseitigen Verständnisses heben oder sie kann die Geschichte der Menschheit, wie wir sie kennen, beenden und zukünftige Generationen von vorne beginnen lassen.
Die Geschichte ist voll von Staatsoberhäuptern und Gesellschaften, die die falsche Wahl getroffen haben. In früheren Zeitaltern konnte ihnen teilweise verziehen werden. Sie verfügten nicht über das heutige wissenschaftliche und erfahrungsbedingte Wissen über Kriege, Klimawandel, Krankheit, Revolution, soziale Solidarität und Frieden.
Es ist fast ironisch, dass wir mit all diesem Wissen in die gleichen Fallen zu tappen scheinen wie unsere Vorfahren. Politiker im demokratischen Zeitalter werden entgegnen, dass sie von der öffentlichen Meinung eingeschränkt werden. Aber haben sie das angesammelte Wissen genutzt, um in der Öffentlichkeit für ansonsten unpopuläre Entscheidungen zu werben? Haben sie versucht, Möglichkeiten durchzuspielen?
Unsere Zukunft ist nicht vorherbestimmt, und ein systematisches Nachdenken über plausible Szenarien könnte verhindern, dass wir – wie John F. Kennedy (während der Kuba-Krise) beklagte – zu einer militärischen Lösung getrieben werden.
Wenn es einen unvorhersehbaren Funken gibt, der wieder unkontrollierbare Kettenreaktionen entzündet, wird unsere Nachwelt, wenn es eine solche denn gibt, erneut darüber streiten, wer an der Eskalation schuld war. Heute wie damals (vor 1914, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs) ist es aber entscheidend, wer die Möglichkeiten einer effektiven Deeskalation nutzt.
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus: Josef Braml und Mathew Burrows, Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern. Das Buch erscheint am 12. Oktober im Verlag C.H.Beck.