Amerika wählt – auch die künftige US-Außenpolitik

Am 8. November wählt Amerika das Abgeordnetenhaus und ein Drittel des Senats neu – doch in Wirklichkeit geht es um so viel mehr. Es geht um die Zukunft der USA, Demokratie und ein mögliches Comeback von Donald Trump. Der USA-Experte Josef Braml skizziert für The Pioneer drei Szenarien, was je nach Wahlausgang passieren könnte.

Am 8. November können die US-Wählerinnen und Wähler zwar nicht unmittelbar den Präsidenten bestätigen oder abwählen. Aber über die Zwischenwahlen, wenn auch nur alle 435 Abgeordnete und ein Drittel des 100-köpfigen Senats zur Wahl stehen, haben sie eine mittelbare Möglichkeit, den innen- und außenpolitischen Handlungsspielraum ihres Staatschefs mitzubestimmen. Im schlimmsten Fall wird durch die Kongresswahlen US-Präsident Joe Bidens Handlungsfähigkeit beschnitten und damit auch Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus ermöglicht. Aber dies ist nur eines von drei möglichen Szenarien:

„First Best“ Szenario

Zwischenzeitlich, insbesondere nach dem Abtreibungsurteil des Obersten Gerichts, sah es indes so aus, als ob eine Gegenmobilisierung den Demokraten helfen würde, die Mehrheiten in beiden Kongress-Kammern, also im Abgeordnetenhaus und im Senat, zu verteidigen. Damit wäre Biden gelungen, was in der US-amerikanischen Geschichte wenige Präsidenten vor ihm geschafft haben: Nach zwei Jahren ihrer Amtszeit bei den Zwischenwahlen nicht Sitze und Mehrheiten im Kongress zu verlieren. US-Präsident Biden würde gestärkt aus den Kongresswahlen hervorgehen – auch mit Blick auf seine weitere Regierungsführung und eine mögliche Wiederwahl in zwei Jahren.

Doch nur wenn die „Bread and Butter“-Themen, also die wirtschaftlichen Grundbedürfnisse, befriedigt sind, können moralische Themen eine ausschlaggebende Rolle spielen. Auch im heutigen Amerika kommt zuerst das Fressen, dann erst die Moral. In den USA geht es zumeist um moralische Themen unterhalb der Gürtellinie, also um Fragen der Sexualmoral wie Homoehe und vor allem Abtreibung. Nachdem das Oberste Gericht – dank der von Trump nominierten drei Richter/innen – das nationale Recht auf Abtreibung aufhob, schien es lange Zeit so, als ob eine starke Mobilisierung, vor allem von liberalen Frauen, den Republikanern bei den Kongresswahlen merklich schaden würde.

Wegen kurzsichtiger Handlungen des amtierenden Präsidenten sind nunmehr jedoch erneut wirtschaftliche Themen in den Vordergrund gerückt und haben die „moral issues“ wieder in den Hintergrund geschoben. Ironischerweise spielt den Republikanern in die Hände, dass US-Präsident Biden die protektionistische Handelspolitik seines republikanischen Vorgängers Trump mehr oder weniger fortgesetzt hat. Das Entkoppeln oder „friend shoring“, also eine weite Entflechtung westlicher Volkswirtschaften von Chinas Planwirtschaft, bewirkt eine Deglobalisierung und wirkt damit auch preistreibend. Mit anderen Worten: Bidens Fortführung von Trumps Protektionismus befeuert die Inflation, die den Demokraten nun innenpolitisch auf die Füße zu fallen droht.

Die von der Biden-Regierung forcierten Öl-Sanktionen gegen Russland haben auch einen politisch hohen Preis. Ihr Bumerang-Effekt auf die US-Wirtschaft gibt den Republikanern bessere Wahlchancen. Denn die durch die Sanktionen erhöhten Ölpreise belasten auch die US-Bevölkerung, insbesondere über spürbar höhere Spritpreise. Mehr noch: Die Russland-Sanktionen befeuern auch die Inflation, die die US-Notenbank zu einer umso restriktiveren Geldpolitik nötigt, die in Amerika wiederum zu weiteren Einbrüchen an den Aktienmärkten und in der Wirtschaft führen dürfte.

Die prekäre wirtschaftliche Lage spielt den Republikanern politisch in die Hände. It’s the economy, stupid! Inflation und Wirtschaft sind die beiden Top-Themen, die US-Wählerinnen und Wähler am meisten umtreiben. Laut einer aktuellen Umfrage der Washington Post und ABC News sagen drei von vier Amerikanern, dass die wirtschaftliche Lage entweder „nicht so gut“ oder „schlecht“ ist. Und dieses Thema begünstigt die Republikaner. Die Wähler vertrauen den Republikanern deutlich mehr als den Demokraten, wenn es um den Umgang mit der Wirtschaft geht.

US-Präsident Biden hat auch die außenpolitische Maxime seiner Vorgänger im Weißen Haus missachtet. Der außenpolitische Antrieb der USA kann mit dem oft zitierten Ausspruch des 30. US-Präsidenten Calvin Coolidge (1923–1929) auf den Punkt gebracht werden: „The chief business of the American people is business“ – das Hauptanliegen der Amerikaner ist das Geschäft. Nach seiner kurzsichtigen Moralisierung von Amerikas Außenpolitik ist es US-Präsident Biden trotz seines Bittgangs nach  Riad nicht gelungen, den Saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zur Kooperation zu bewegen – den Mann, den Biden zuvor noch als Paria vor der Weltöffentlichkeit an den Pranger stellen wollte.

Indem die von Saudi-Arabien angeführte OPEC nun sogar das Gegenteil unternimmt und die Öl-Produktion massiv, um zwei Millionen Fässer pro Tag, drosselt, hilft der von Biden seinerzeit gedemütigte Kronprinz Saudi-Arabiens heute nicht nur dem Russischen Machthaber Wladimir Putin, sondern beeinflusst auch die amerikanische Innenpolitik zugunsten der republikanischen Partei Trumps, der sich ihm und auch anderen Autokraten gegenüber viel wohlwollender verhalten hat.

„Second Best“ Szenario

In einem zweiten, und derzeit wahrscheinlichsten Szenario, verlieren die Demokraten nur das Abgeordnetenhaus, verteidigen aber ihre Senatsmehrheit. Biden hätte in diesem Fall größere Schwierigkeiten, über den Gesetzweg seine innenpolitischen Vorhaben umzusetzen. Insbesondere könnte Bidens Unfähigkeit, das Wahlrecht zu reformieren, sich als problematisch für die amerikanische Demokratie erweisen und seinem Herausforderer Trump bessere Chancen für eine zweite Amtszeit geben.

Auch in der Außenpolitik würde vieles auf den Prüfstand gehoben, zuvorderst Amerikas Ukraine-Politik, zumal die Unterstützung Kiews mit amerikanischen Steuergeldern finanziert wird und damit von beiden Kongress-Kammern bewilligt werden muss. US-Regierungsbeamte bezweifeln, dass sie nach den Kongresswahlen im November große Hilfspakete für die Ukraine verabschieden können. Europa würde noch stärker in die Pflicht genommen, die immensen Herausforderungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft selbst zu bewältigen. Angesichts der absehbaren sozialen, wirtschaftlichen und innenpolitischen Probleme in den USA sowie der aus Washingtons Sicht größeren Bedrohung durch China dürfte sich Amerikas Aufmerksamkeit ohnehin verschieben.

Vor allem im Wahlkampf verändern sich die Prioritäten. Zum Zwecke von Trumps Wiederwahl ist ihm und den seinen wohl weiterhin jedes Mittel recht. Schon im vorherigen US-Wahlkampf hatte Trump vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dessen Kooperation gegen seinen Herausforderer Biden und dessen Sohn Hunter gefordert. Ohne belastendes Material, so Trumps unverhohlene Drohung, würden die USA unter seiner Führung die militärische Hilfe an die Ukraine zurückfahren. Trump wittert nach wie vor eine politische Angriffsfläche: Hunter Biden stand mit 50.000 Dollar pro Monat auf der Gehaltsliste der ukrainischen Gasholding Burisma, obwohl sein Vater als Vizepräsident in der Amtszeit von Barack Obama für das Ukraine-Dossier verantwortlich war.

Sollten nach den Zwischenwahlen erneut mögliche Ermittlungen auch den Präsidenten persönlich belasten, könnte eine neue republikanische Mehrheit im Abgeordnetenhaus zwar ein Amtsenthebungsverfahren gegen Biden einläuten. Aber mangels einer Zwei-Drittel-Mehrheit in der dafür entscheidenden Senatskammer würde das „Impeachment“-Verfahren, wie seinerzeit schon zwei Mal gegen Trump, abgewendet werden können.

Gleichwohl könnte die für das Weiterbestehen der US-Demokratie nötige Aufarbeitung des Sturms auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 von den Republikanern im Kongress umso mehr blockiert werden. Republikanische Abgeordnete und Senatoren folgen weiterhin willfährig ihrem Volkstribun Donald Trump; zwei Drittel von ihnen halten an Trumps Behauptung fest, dass die Wahl „gestohlen“ worden und Biden nicht der rechtmäßige Präsident der nicht mehr so Vereinigten Staaten sei.

Nicht ohne politischen Grund: Auch sechs von zehn Wählerinnen und Wählern der Republikaner glauben Trumps Lüge, dass US-Präsident Biden unrechtmäßig gewählt wurde. Es ist sehr bedenklich, dass die Mehrzahl der republikanischen Kandidaten, die im November zur Wahl antreten, ebenso die rechtmäßige Wahl Bidens bestreiten. Nicht zuletzt auch aus Angst vor dem möglichen Zorn des unangefochtenen Parteiführers Trump, der Abtrünnigen, etwa der Abgeordneten Liz Cheney, den politischen Garaus gemacht hat. Bereits in den Vorwahlen wurden die Republikaner auf Trump-Linie gebracht. Nach den Zwischenwahlen im November werden nur wenige Republikaner im Amt bleiben, die etwa für Trumps Amtsenthebung wegen seiner Handlungen nach seiner Wahlniederlage gestimmt haben.

Während die in den Vorwahlen von Trumps Gnaden „auserwählten“ Kandidaten denn auch im November ins Abgeordnetenhaus gewählt werden dürften, könnten indes Trumps Interventionen den Republikanern eine mögliche Mehrheit im Senat kosten. Anders als die durch sogenanntes „gerrymandering“ auf homogene Wählerschaften zugeschnittenen Wahlkreise der Abgeordneten, in denen – auf beiden Seiten des politischen Spektrums – nur die extremen Kandidaten gewinnen, entscheidet bei den Wahlen zum Senat eine diversere Wählerschaft in den meisten Einzelstaaten sich zumeist für gemäßigtere Kandidaten in der politischen Mitte.

Wenn jedoch die dank Trumps Unterstützung in den Vorwahlen siegreichen politischen Novizen – etwa J.D. Vance in Ohio, Herschel Walker in Georgia und Mehmet Oz in Pennsylvania – wider Erwarten doch in den Senat einzögen, dann würden sich nicht nur die Machtkonstellationen im Kongress grundlegend zugunsten der Republikaner ändern, sondern auch die Präsidentschaftskandidatur Trumps und seine Rückkehr ins Weiße Haus umso wahrscheinlicher werden.

„Worst Case“ Szenario

Sollte sich die Machtarithmetik im Kongress grundsätzlich ändern, also die Republikaner beide Kongresskammern für sich entscheiden, droht Präsident Biden umso mehr Handlungsunfähigkeit – nicht zuletzt auch in der Außenpolitik. Völkerrechtlich bindende Vertragsunterzeichnungen des Präsidenten gelten erst, wenn sie vom Senat ratifiziert worden sind.

Der Senat muss ferner präsidentiellen Personalernennungen für höhere Ämter wie Richter, Botschafter, Minister und weitere Spitzenbeamte zustimmen. Zwar kann der Präsident den Rat und die Zustimmung („advice and consent“) des Senats umgehen, indem er Kandidaten außerhalb der Sitzungsperiode, das heißt über ein sogenanntes „recess appointment“, ernennt. Doch deren Amtszeiten enden dann mit der jeweiligen Legislaturperiode und sie bekommen bei ihrer Amtsausübung den Unmut der Senatoren zu spüren. Denn das wirksamste politische Kontrollmittel ist die Macht der Geldbörse („power of the purse“). Das heißt, der Kongress muss bzw. darf die Haushaltsmittel, insbesondere auch jene für Exekutivorgane, bewilligen.

Die Blockade der Biden-Regierung, insbesondere ihre Handlungsunfähigkeit bei der Lösung dringender wirtschaftlicher und sozialer Probleme, dürfte die Wiederkehr Donald Trumps ins Weiße Haus befördern. Selbst wenn er – wegen möglicher strafrechtlicher Verurteilungen – bei den Präsidentschaftswahlen 2024 nicht selbst kandidieren sollte, stünden Populisten nach Trumps Ebenbild wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis in den Startlöchern. Andere republikanische Kandidaten könnten noch herausfordernder für Europa sein. Das sind keine guten Nachrichten für den Alten Kontinent, der seine Sicherheit in die Hände Washingtons gelegt hat.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist beim Verlag C.H.Beck erschienen.