Europas Interessen vs. Amerikas Geo-Ökonomie

Während man sich in Europa um die russische Bedrohung sorgt, wendet sich der Blick der amerikanischen Regierung alarmiert Richtung China – und damit weg von Europa. Der Krieg in der Ukraine sollte den Europäern die Augen vor den Risiken öffnen, sicherheitspolitisch existenziell von den USA abhängig zu sein, warnt der Politikwissenschaftler und USA-Experte Josef Braml in seinem neuen Beitrag für The Pioneer.

Der Krieg in der Ukraine sollte Deutschland die Augen für die Risiken öffnen, von den USA sicherheitspolitisch existenziell abhängig zu sein, während Washington sich immer mehr auf die Großmachtrivalität mit China konzentriert und absehbar durch innenpolitische Verwerfungen blockiert ist.

Europäer und Amerikaner haben weiterhin unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen. In der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der USA wurde Russland zu einer „akuten“ Bedrohung herabgestuft, während China als „fortschreitende (pacing) Bedrohung“ angeführt wurde. Die aktuelle und sich zuspitzende Auseinandersetzung um den Status Taiwans verdeutlicht die Gefahr, dass sich Washington und Peking immer mehr in ein Sicherheitsdilemma manövrieren – das ähnlich wie die russisch-amerikanische Rivalität in einen Krieg münden könnte, bei dem andere, vor allem auch die Europäer, einmal mehr den „Kollateralschaden“ tragen müssten.

Der Alte Kontinent bleibt zwar weiterhin im Interesse der USA, aber nur im peripheren. Die USA investieren im Ukrainekrieg nur das Nötigste, um gegen den Hauptrivalen China gewappnet zu bleiben, aber auch, um ihren asiatischen Alliierten Zuverlässigkeit zu signalisieren. Ein weiteres Desaster wie in Afghanistan hätte Länder wie Japan und Südkorea daran zweifeln lassen, ob der hohe Tribut, den sie an die Schutzmacht zollen, wirklich das Geld wert ist.

Die USA wollen in der Ukraine nach wie vor keine Kriegspartei werden. Auch bei der Lieferung von Waffen und Bereitstellung von Geheimdienstinformationen trägt die US-Regierung Sorge, dass mithilfe der Ukraine, deren Menschen in diesem Krieg die meisten Opfer bringen, Russland nur geschwächt wird.

Denn künftig könnten die USA mit einem seiner Schwächen bewussten Russland einen Deal schmieden, um sich gemeinsam besser gegen das mächtigere und auch im Osten Russlands raumgreifende China zu wappnen. Sollte Putin-Bewunderer Donald Trump erneut ins Weiße Haus gewählt werden, dürfte dieses realpolitische Szenario umso schneller eintreten.

Wer diese Entwicklung aufgrund moralischer oder werteorientierter Gründe für unmöglich hält, sollte sich vergegenwärtigen, dass US-Präsident Joe Biden jüngst einen Canossa-Gang nach Riad machte, um Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed Bin Salman um Kooperation zu bitten. Den Mann, den er eigentlich als Schlächter vor der Weltöffentlichkeit geißeln wollte. Einmal mehr in ihrer Geschichte haben die USA bewiesen, dass sie zu Realpolitik fähig sind, die indes meistens – und auch in diesem Fall – kurzsichtig war.

Bidens Bittgang war umsonst: Saudi-Arabien weigerte sich, seine Produktion zu erhöhen. Im Gegenteil: Anfang Oktober entschied die von Saudi-Arabien angeführte OPEC, das künftige Angebot um zwei Millionen Fässer Öl pro Tag zu reduzieren – eine enorme Menge, die die Preise an den Tankstellen und damit auch die Chancen der Republikaner an den Wahlurnen merklich erhöhen dürfte.

Denn auch auf mittlere Sicht wird die durch die Energiepreise befeuerte Inflation die US-Notenbank nötigen, ihre Gelddruckmaschine zu entschleunigen und die Zinsen weiter zu erhöhen, was im besten Fall eine Rezession oder im schlimmsten Fall eine Finanzkrise auslösen könnte.

Saudi-Arabien hat also nicht nur den Hebel in der Hand, um Putins Kriegsregime zu unterstützen, sondern kann auch dafür sorgen, dass ein gegenüber Autokraten freundlicher gesinnter Machthaber wie Trump wieder ins Weiße Haus befördert wird. Die westlichen Wirtschaftssanktionen könnten also nicht zu dem von vielen erhofften „regime change“ in Moskau, sondern zu einem Machtwechsel in Washington führen.

Trumps Wahlsieg wäre nicht einmal das schlimmste Szenario. Die Mehrzahl der US-Bürger befürchten bereits den Untergang ihrer Demokratie. Immer mehr renommierte Experten und Expertinnen schließen einen Bürgerkrieg in den USA nicht mehr aus. Amerika könnte künftig noch mehr mit sich selbst beschäftigt sein und ohne die Pax Americana wäre auch die Nato nicht mehr viel wert.

Das bisherige und künftig wackelige Schutzversprechen der USA hat nichtsdestotrotz seinen Preis: Wer sich wie Deutschland bislang kein einsatzfähiges Militär geleistet hat, muss wohl oder übel Tribut an die Schutzmacht zollen und auch seine Interessen in der Handels- und Währungspolitik preisgeben. Um weiterhin am nuklearen Schutzschirm teilhaben zu dürfen, will die Bundesregierung 35 moderne Kampfjets (F35) des US-Herstellers Lockheed Martin kaufen. Militärmacht kann also in wirtschaftliche Vorteile umgemünzt werden. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ funktioniert besser mit der oft schon leicht sichtbaren Faust in der Tasche. Und umgekehrt kann Wirtschaft als Waffe eingesetzt werden.

Um künftig weniger verwundbar zu sein, wären die Europäer gut beraten, nicht nur die eigene militärische Wehrhaftigkeit zu erhöhen, sondern auch den europäischen Wirtschaftsraum wetterfest zu machen. Eine politische Union mit einem gemeinsamen Haushalt wird überlebensnotwendig für die Wirtschaftsunion sein. Um den Euro neben dem Dollar als Weltleitwährung zu etablieren, könnte Europa seinen institutionellen und auch internationalen Anlegern Investitionsmöglichkeiten, sogenannte „Tiefe“, anbieten. Sonst laufen sie wie in der Finanzkrise 2007-2008 wieder Gefahr, ihr Lehrgeld in die abgrund-tiefen Märkte der USA zu zahlen.

Es geht in Europa also darum, gemeinsame Schulden zu machen, aber nicht weiter über den Umweg der EZB, die zwar die Schrott-Anleihen von Staaten geringer Bonität aufkauft, ohne dabei jedoch ernsthafte politische Konditionen erwirken zu können. Nur wer – wie auch die US-Regierung in Washington – goldene Zügel hat, kann durch finanzielle Anreize und Sanktionsmöglichkeiten das wirtschaftliche, soziale und politische Verhalten seiner Einzelstaaten lenken. Wer sich in seiner eigenen Währung verschuldet, hätte auch mehr innen- und außenpolitisches Kapital.

Die ebenso mit goldenen Zügeln vereinigten Staaten Europas müssten künftig weniger Tribut an die Schutzmacht USA zollen, könnten sich ein eigenes europäisches Militär leisten und in eine souveräne IT-Infrastruktur investieren. Mit dem federführend von Frankreich und Deutschland geplanten Zukunftsprojekt Future Combat Air System (FCAS) etwa würden die Europäer nicht nur ihre militärische, sondern auch ihre technologische Abhängigkeit von den USA verringern und ihre eigene Souveränität behaupten.

Alternativ könnten sich die Europäer aussuchen, ob sie von Chinas Staatsunternehmen oder von den 16 amerikanischen Geheimdiensten ausspioniert werden wollen. In einer künftig noch härter werdenden geo-ökonomischen Rivalität größerer Mächte geht es nicht mehr um „Freihandel“ oder – wie noch in den Köpfen russischer Geopolitiker der alten Schule vorherrscht – um die Verteidigung und Eroberung von Räumen. Es geht um die Kontrolle von Strömen: nämlich von Handels-, Finanz-, Währungs-, Humankapital- und Datenströmen. Wirtschaft ist in diesem geo-ökonomischen Verständnis das Mittel zum geostrategischen Zweck.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist beim Verlag C.H.Beck erschienen.