Unter Joe Biden gefährden die USA weiterhin die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung. Angesichts ihrer enormen Verschuldung werden die Vereinigten Staaten auch künftig starken Druck auf ihre „Verbündeten“ in Europa machen, analysiert USA-Experte Josef Braml in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung.
Die neue Biden-Regierung ist lediglich rhetorisch wieder mehr um die „Gemeinschaft der Demokratien“ bemüht. Der amerikanische Präsident Joe Biden hat seiner multilateralen Rhetorik in der für Europa besonders wichtigen Handelspolitik noch keine Taten folgen lassen. Weder hat er die von seinem Vorgänger Donald Trump eingeführten Aluminium- und Stahlzölle gegen Amerikas „Alliierte“ zurückgenommen noch weitere Zölle, etwa auf Autos, ausgeschlossen.
Biden hält ebenso an der Blockade der USA bei der Neubenennung von Richterinnen und Richtern für die Berufungskammer der Welthandelsorganisation (WTO) fest. Mit der Streitschlichtung haben die USA das Herzstück der WTO und damit ein wichtiges Organ der internationalen Wirtschaftsordnung außer Kraft gesetzt. Anstatt die WTO und damit die regelbasierte Ordnung dafür zu nutzen, Chinas neomerkantilistischer Wirtschaftspolitik Grenzen zu setzen, führt Biden die von seinem Vorgänger forcierte unilaterale Wirtschaftspolitik mit dem Recht des wirtschaftlich und militärisch Stärkeren fort.
Welthandelsordnung weiterhin in Gefahr
US-Präsident Trump stellte vor allem das multilaterale Welthandelssystem immer wieder als schlechten Deal für Amerika dar. Indem er auch in diesem Politikfeld die militärische Trumpfkarte zog und Strafzölle (auf Stahl und Aluminium) mit nationaler Sicherheit begründete, setzte er nicht nur seine handelspolitischen Ziele durch, sondern er untergrub auch die Glaubwürdigkeit der WTO.
Mit der Verquickung von Handels- und Sicherheitspolitik wurde ein folgenreicher Paradigmenwechsel vollzogen: Denn es ist fraglich, ob die WTO überhaupt Streitigkeiten über Handelsmaßnahmen schlichten kann, die mit nationaler Sicherheit begründet werden. Dem Beispiel der USA folgend, könnten andere Länder ihrerseits Zölle im Namen ihrer nationalen Sicherheit erheben. Das wäre schnell das Ende einer durch die WTO geregelten internationalen Handelsordnung.
Auch in anderer Hinsicht gefährden die USA die Funktionsfähigkeit der WTO, indem sie die Neubesetzung frei werdender Richterstellen im Berufungsgremium blockieren. Seit Dezember 2019 ist das rechtlich bindende Streitschlichtungsverfahren der WTO außer Kraft gesetzt. Die USA kritisieren insbesondere, dass das Berufungsgremium in vielen Fällen seine Kompetenzen überschritten und in seinen Urteilen die Rechte der USA auf Handelsschutzmaßnahmen beeinträchtigt habe.
In ihrer Fixierung auf nationale Souveränität gehen die USA ohnehin davon aus, dass ein WTO-Urteil gegen die USA nicht automatisch zu einer Änderung eines amerikanischen Gesetzes oder einer Handelspraxis führen wird. Umgekehrt soll jedoch amerikanischen Handelsgesetzen weltweit mit aller zur Verfügung stehenden Machtfülle Geltung verschafft werden.
Die USA kritisieren zudem, dass die WTO nicht in der Lage sei, handelsverzerrenden Praktiken von nichtmarktwirtschaftlichen Staaten wie China zu begegnen. Die Regeln seien zu schwach oder zu veraltet, als dass sie mit staatlich subventioniertem Handel, Staatsunternehmen, erzwungenem Technologietransfer oder dem Diebstahl geistigen Eigentums umgehen könnten. Daher gehen die USA nunmehr aggressiv und unilateral gegen ihre Konkurrenten vor.
Geoökonomie: Wirtschaft als Waffe
In dem sich zuspitzenden geoökonomischen Wettbewerb, insbesondere zwischen den USA und China, aber auch mit Amerikas „Alliierten“, ist Wirtschaft nicht mehr das Ziel, sondern ein Mittel zum geostrategischen Zweck. Obschon die neue Biden-Regierung rhetorisch wieder mehr die „Gemeinschaft der Demokratien“ bemüht, geht es den USA im Kern nach wie vor darum, mit aller wirtschaftlichen und militärischen Macht ihre nationalen Interessen zu wahren.
So wird auch Europa dazu genötigt, anstelle des billigeren russischen Gases mehr „Freiheitsgas“ aus den USA zu beziehen und für die zum Transport nötige Infrastruktur, etwa Flüssiggasterminals, zu bezahlen. Auch wer in Europa wieder mit Geschäften in Iran rechnet, unterschätzt die Militär- und Wirtschaftsmacht der USA. Die amerikanische Regierung droht auch offen damit, Deutschland keine Geheimdienstinformationen mehr zu geben und deutsche Firmen, die mit dem chinesischen Anbieter Huawei weiterhin Geschäfte machen, mit Sanktionen zu belegen.
Wegen ihrer durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen Notlage und der enormen Verschuldung, die mit 100,1 Prozent des BIP mittlerweile die Wirtschaftskraft des Landes übersteigt, werden die USA unter der Regierung Joe Bidens umso mehr versuchen, aus der ökonomischen und insbesondere militärischen Abhängigkeit ihrer Verbündeten in Europa und Asien Kapital zu schlagen.
Die europäischen Verbündeten sollten sich vergegenwärtigen, dass Trump bestehende transatlantische Konflikte in der Sicherheits- und Handelspolitik nur verschärft hat. Bereits unter der Obama/Biden-Regierung machten die USA Druck auf die Europäer, damit diese – wie 2014 vereinbart – künftig 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung ausgeben. Deutschland wird auch künftig dazu angehalten werden, amerikanische Rüstungsgüter zu kaufen, damit es dadurch auch technologisch abhängig bleibt.
Die USA werden weiterhin Handels-, Energie-, Finanz- und Datenströme kontrollieren oder manipulieren – insbesondere durch (Sekundär-)Sanktionen. Vor allem im Technologiesektor, zum Beispiel im Fall von 5G/Huawei, wird Washington auch gegenüber Verbündeten unnachgiebig bleiben. Eine in chinesische und amerikanische Standards und Systeme zweigeteilte Welt könnte die Folge sein. Das wäre das Ende der internationalen Wirtschaftsordnung und der Globalisierung, wie wir sie heute noch kennen.
Josef Braml ist USA-Experte des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Cassis) der Universität Bonn und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission. Aktuelle Analysen veröffentlicht er auch über seinen Blog „usaexperte.com“.