So wird die Geopolitik die Kapitalmärkte beeinflussen

In einer Welt, die nicht mehr von ökonomischer, sondern geopolitischer Rationalität geleitet wird, müssen auch Finanzakteure grundlegend umdenken. Im Gespräch mit Citywire Deutschland erklärt Politik-Experte Josef Braml, welche Konsequenzen die geopolitischen Veränderungen auf die globalen Kapitalmärkte haben werden.

„Die transatlantische Illusion“ lautet der Titel Ihres aktuellen Bestsellers. Darin schreiben Sie, dass wir uns nicht mehr auf die USA verlassen können. Was meinen Sie damit?

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkt der Westen geschlossen wie lange nicht. Doch die Weltmacht ist angeschlagen. Sie wird sich zunehmend auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Zu glauben, die USA würden unsere Interessen auch in Zukunft mitvertreten, ist die transatlantische Illusion. Aufgrund der sich schon seit Längerem verändernden geopolitischen Lage müssen wir in Europa selbstständiger werden: militärisch, politisch, wirtschaftlich. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, dann werden wir zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören und die Grundlagen verspielen, auf denen unser Wohlstand beruht.

Die USA sind momentan noch mit Abstand der größte Unterstützer der Ukraine. Die Stimmen, die eine Reduzierung der Hilfe fordern, werden aber auch dort immer lauter. Meinen Sie, dass die aktuelle Regierung diesen Stimmen nachgeben wird?

Nach der Niederlage der Demokraten bei den Zwischenwahlen steht dem demokratischen Präsidenten Joe Biden im Repräsentantenhaus eine republikanische Mehrheit gegenüber. Deren Führer Kevin McCarthy wird vor allem auf Obstruktion setzen, zumal er in seiner Fraktion vom trumpistischen Flügel abhängig ist. Das zeigten schon die zu seiner Inthronisierung erforderlichen 15 Wahlgänge. Um überhaupt, auch später als Sprecher, gewählt zu werden, hatte McCarthy schon im Wahlkampf gedroht, Kiew „keine Blankoschecks“ mehr ausstellen zu wollen.

Schon bald werden die Vereinigten Staaten einmal mehr einen erbitterten Streit um die Anhebung der Schuldenobergrenze erleben, der auch die Finanzmärkte beunruhigen dürfte. Der harte Kern der republikanischen Fiskalkonservativen wird den drohenden „fiskalischen Abgrund“ nutzen, um die von Präsident Biden und dem demokratisch kontrollierten Senat beabsichtigten Ausgaben massiv zu kürzen – nicht zuletzt für die Ukrainehilfe. Das aber erhöht den finanziellen Druck auf Europa.

Inwiefern?

Mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Überfall dürfte die Forderung der USA nach „gerechter Lastenteilung“ immer lauter werden. Nachdem die Amerikaner bislang den Großteil der militärischen Hilfe für Kiew gestemmt haben, zeichnet sich ab: Die Europäer werden den Löwenanteil der Wirtschafts- und Wiederaufbauhilfen für die Ukraine finanzieren müssen. Dabei dürfte der Wiederaufbau des zerstörten Landes mehr als die bislang von der Europäischen Kommission geschätzten $350 Milliarden kosten – und diese Kosten sind, anders als Teile der EU-Bürokratie meinen, nicht durch beschlagnahmte Vermögenswerte russischer Oligarchen zu begleichen.

Der Krieg in der Ukraine hat wieder einmal die Machtlosigkeit internationaler Organisationen vorgeführt. Kehren wir in eine Welt dominiert von den Sicherheits- und Machtinteressen der Großmächte zurück?

Die Weltpolitik ist nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine im Umbruch. Doch unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger haben diese Zeitenwende zu lange ignoriert. Nicht nur Russlands Machthaber Putin hat viele aus ihrem Dornröschenschlaf – sprich untätigen, verträumten Dasein – gerissen. Ebenso enttäuscht wurde der liberale Wunschtraum, dass China durch wirtschaftliche Liberalisierung auch sein politisches System demokratisieren würde. Damit wurde auch die Grundannahme der bisherigen westlichen „Engagement“-Politik beseitigt, dass sich China als „verantwortungsvoller Teilhaber“ in die von den USA dominierte westliche Weltordnung einfügen würde. In den ernüchterten Augen der US-Geostrategen wird das Reich der Mitte nun eher als Gegenmacht gesehen, die eingedämmt werden muss. Schon seit Längerem gibt es Bedenken in Washington, dass die USA gegenüber China technologisch ins Hintertreffen geraten und damit bedroht werden könnten.

Auf welche geopolitische Ordnung steuern wir zu? 

Um Chinas wirtschaftliche und militärische Modernisierung einzudämmen, treiben die USA statt der bisherigen Integrationspolitik eine Strategie der wirtschaftlichen „Entkopplung“ voran, ohne zu zögern auch auf Kosten Europas. Die USA werden diesen kompromisslosen Kurs gegen China weiterfahren, weil sie auch selber weniger zu verlieren haben als andere Länder. Während der globale Handel heute etwa 60% der weltweiten Wertschöpfung ausmacht, ist das Bruttoinlandsprodukt der USA nur zu einem Viertel vom Handel mit anderen Ländern abhängig. Insbesondere sind die wirtschaftlichen Kosten einer Konfrontation mit China für die USA niedriger als für viele andere Volkswirtschaften.

Was erwarten Sie konkret?

Angetrieben von einer gemeinsamen Opposition gegen China werden Demokraten und Republikaner auch künftig „Buy American“-Bestimmungen in die laufende Gesetzgebung aufnehmen und nötigenfalls umfassendere Lieferkettenmaßnahmen vereinbaren. Es ist derzeit schon absehbar, dass die USA nach den jüngsten Exportbeschränkungen für Halbleiter weitere Maßnahmen auf den Weg bringen: etwa neue Einschränkungen für Produkte im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz und Quantencomputern sowie Vorschriften für amerikanische Auslandsinvestitionen in kritische Technologien. Sehr wahrscheinlich sind auch restriktivere Exportkontrollen und eine regulatorische Aufsicht über Exportlizenzen und Lieferketten bei Elektrofahrzeugen und Batterien sowie Wind-, Solar-, Cyber-, Weltraum- und satellitenbezogenen Technologien.

Welche Rolle werden die BRICS-Länder in Zukunft spielen?

Bereits im Umgang mit dem ökonomisch weniger mächtigen Russland sollte westlichen Entscheidungsträgern deutlich geworden sein, dass sich die Länder des globalen Südens nicht in die westliche Allianz einspannen lassen. Während alle G7-Staaten – also Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien und die USA – Wirtschaftssanktionen gegen Russland in Kraft setzten, stemmt sich eine Reihe von Staaten des globalen Südens schon deshalb dagegen, weil sie sich diese Strafmaßnahmen einfach nicht leisten können. Das gilt nicht nur für die BRICS-Staaten – also Brasilien, selbstverständlich Russland, Indien, China und Südafrika – sondern auch für Staaten wie Argentinien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien und die Türkei.

Welche Rolle kann Europa in einer Welt einnehmen, die von den Machtambitionen der Großmächte China und USA dominiert wird?

Nur die Europäische Union garantiert Marktmacht und Handlungsoptionen, damit die europäischen Länder weiterhin unabhängiger agieren und in Sicherheit und Wohlstand leben können. Rhetorische Worthülsen wie „strategische Unabhängigkeit“ oder „Autonomie“ kaschieren bislang jedoch nur die fehlende Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU, die zur Anpassung an diese neue Weltordnung dringend notwendig ist. Die EU ist besonders anfällig für die „Teile-und-beherrsche“-Strategien der Großmächte, insbesondere Chinas und der USA. Um ihre politische Verwundbarkeit zu überwinden, ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern und weltpolitisch leistungsfähig zu werden, sollte die EU vom Prinzip der Einstimmigkeit zu einer realistischeren Entscheidungsfindung in Form von Beschlussfassungen mit qualifizierter Mehrheit in der Außen- und Sicherheitspolitik übergehen.  

Was bedeuten die aktuellen geopolitischen Verschiebungen für die Finanzwelt?

In einer Welt, die nicht mehr von ökonomischer, sondern geopolitischer Rationalität geleitet wird, müssen auch Finanzakteure grundlegend umdenken. In der Welt der Geoökonomie ist Wirtschaft nicht mehr das Ziel, sondern das Mittel zum geostrategischen Zweck. Wirtschaft, nicht zuletzt auch der Dollar, wird als Waffe eingesetzt. Vor allem werden Handels-, Finanz- und Datenströme politisch gesteuert und manipuliert. Gemäß der geoökonomischen Logik, insbesondere der Weltmacht USA, geht es nicht mehr um das bessere Produkt zum günstigeren Preis, sondern in Austauschbeziehungen darum, ob dem ökonomischen Rivalen, namentlich China, damit ein Vorteil entstehen könnte. Während in der bisherigen liberalen Weltwirtschaftsordnung der regulative Einfluss von Politik zugunsten freier und offener Märkte zurückgenommen wurde, greifen mächtige Staaten wie die USA und nicht zuletzt auch China nun wieder verstärkt in das Wirtschaftsgeschehen ein, um ihre geostrategischen Ziele zu verfolgen.

Wird Geopolitik ein dominierender Faktor beim Thema Anlage werden?

Russlands Krieg in der Ukraine wird die bereits durch die sino-amerikanische Rivalität in Gang gesetzte De-globalisierung verstärken, da er erneut gezeigt hat, wie Interdependenz als Waffe eingesetzt werden kann. Westliche Entscheidungsträger, die bereits durch die durch Putins Krieg verursachten Störungen der Lieferketten herausgefordert werden, müssen ihre Anstrengungen verstärken, um sich auf eine mögliche Zukunft vorzubereiten, in der China noch aggressiver sein könnte – zum Beispiel gegenüber Taiwan. Resilienz ist der Schlüssel – auf Kosten der Effizienz, wie sie die bisher international vernetzte „Just in Time“-Produktion ermöglichte. Dieses „Near-Shoring“, „Re-Shoring“ oder „Friend-Shoring“ bedeutet, dass westliche Unternehmen ihre Lieferketten nicht nur aus Russland, sondern hauptsächlich aus China nach Hause verlagern.

Worauf müssen sich Anleger einstellen?

Wenn die Globalisierung die Kosten gesenkt hat, gilt auch umgekehrt: De-globalisierung ist preistreibend und bewirkt Inflation. Amerikas Wirtschaftskrieg mit China könnte einen noch höheren Preis zeitigen.

Bereits im Zuge des Ukrainekrieges wurde deutlich, dass Wirtschaftswaffen zweischneidige Schwerter sind. Nach dem ursprünglich massiven Druck aus Washington hat US-Finanzministerin Janet Yellen vor allem auch aus Eigeninteresse den Europäern später davon abgeraten, russische Öllieferungen vollständig zu boykottieren. Denn die damit verursachten höheren Ölpreise befeuern die Inflation, die die US-Notenbank zu einer restriktiveren Geldpolitik nötigt, die wiederum zu weiteren Einbrüchen an den US-Aktienmärkten und der US-Wirtschaft führen dürfte.

Es gibt eine Reihe mehr oder weniger wahrscheinlicher Szenarien, die von geopolitischen Faktoren bestimmt werden können – mit gravierenden Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Wer als Unternehmer oder Anleger strategische Entscheidungen wagen muss, sollte insbesondere die grundlegenden Veränderungen der Weltmacht USA und die daraus resultierenden geostrategischen und weltwirtschaftlichen Umwälzungen einschätzen können. Eine Investition in vorausschauendes Orientierungswissen, sprich professionelles „Strategic Foresight“, rentiert sich – vor allem im Vergleich zu den massiven Kosten, die strategische Fehlentscheidungen verursachen können.

Dr. Josef Braml ist Experte für „Strategic Foresight“ und European Director der Trilateral Commission. Er verfügt über 20 Jahre Erfahrung in angewandter Forschung und Beratung weltweit führender Think Tanks, u.a. bei der Brookings Institution, der Weltbank und als legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus. Zuletzt erschien beim Verlag C.H.Beck sein Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“.