Die Welt nach der Ukraine

Warum die USA trotz des Ukrainekrieges künftig ihre Sicherheitsinteressen zulasten Europas nach Asien fokussieren – und was das für die europäische Außenpolitik bedeutet, erläutert der USA-Experte Josef Braml in einem Gastbeitrag für die Fuldaer Zeitung.

Das „Ende der Geschichte“, das von der westlichen Gemeinschaft nach dem Untergang des Systemrivalen Sowjetunion gefeiert wurde – der globale Sieg der liberal-demokratischen Herrschaft und der freien Marktwirtschaft –, wurde ironischerweise von der Geschichte widerlegt, lange vor Wladimir Putins Invasion in die Ukraine.

Donald Trumps autoritäre Herausforderung der US-Demokratie und seine nationalistische Wirtschaftspolitik war ein klares Zeichen für einen neuen systemischen Wettbewerb zwischen der angeschlagenen Weltmacht, den Vereinigten Staaten, und dem zunehmend selbstbewussten China. Der „Washingtoner Konsens“ wird nun nicht nur in den Vereinigten Staaten selbst heiß umkämpft, sondern auch international durch den „Beijing Consensus“ in Frage gestellt.

Angesichts der russischen Invasion der Ukraine wirkt der „Westen“ gleichwohl so geeint wie schon lange nicht mehr. Aus geostrategischer Sicht verfügt Russland jedoch über eine Eskalationsdominanz in seiner Nachbarschaft. Während die Ukraine aufgrund ihrer geografischen Lage an seiner unmittelbaren Grenze im „vitalen Interesse“ Russlands liegt, betrifft das Schicksal der Ukraine (und Europas) die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten nur am Rande.

Die vitalen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen der USA konzentrieren sich hauptsächlich auf die Konfrontation mit China. Daher wird Washington wegen eines Krieges in der Alten Welt seinen neuen Verbündeten Indien, der starke wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Moskau unterhält, den es aber gegen seinen Hauptrivalen China in der Wirtschaftsregion der Zukunft braucht, nicht entfremden.

Tatsächlich werden selbst Washingtons strategische Denker eher früher als später erkennen, dass in der heutigen Welt eine feste strategische Allianz zwischen Russland und China die Fähigkeiten der Vereinigten Staaten überfordern würde.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert konkurrieren die Vereinigten Staaten und China um die wirtschaftliche, politische und militärische Vorherrschaft. Deutschland und Europa geraten zunehmend in eine Zwickmühle und werden zu Kollateralschäden dieser historischen Auseinandersetzung, wenn ihre Entscheidungsträger im immer härter werdenden wirtschaftlichen und geopolitischen Wettbewerb keine Handlungsoptionen zur Verteidigung ihrer Interessen entwickeln.

Die Wirtschaft wird in dieser geoökonomischen Rivalität als Waffe eingesetzt. Russlands Krieg in der Ukraine wird diese Deglobalisierung verstärken, da er erneut gezeigt hat, wie Interdependenz als Waffe eingesetzt werden kann. Westliche Entscheidungsträger, die bereits durch die durch Putins Krieg verursachten Störungen der Lieferketten herausgefordert sind, müssen ihre Anstrengungen verstärken, um sich auf eine mögliche Zukunft vorzubereiten, in der China aggressiver sein könnte, zum Beispiel gegenüber Taiwan.

Doch die Rückkehr nationalistischer Machtpolitik und die damit verbundene Deglobalisierung überrascht die Führer der Berliner Republik und Europas. Trotz offensichtlicher Warnsignale sind politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger der sogenannten freien Welt zu lange im liberalen Zeitgeist der deutschen Wiedervereinigung geblieben und haben am Selbstverständnis ihrer edlen Wertorientierung festgehalten.

Dr. Josef Braml ist Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission und Autor des Buches „Die transatlantische Illusion“, das beim Verlag C.H.Beck erschienen ist.