Sicherheitspolitik ohne Illusionen

Warum Deutschland selbstständiger werden und Führung zeigen muss, erläutert USA-Experte Josef Braml im Interview-Gespräch mit André Uzulis, Chefredakteur des Magazins für Sicherheitspolitik „Loyal“.

Selten seit zwei Generationen waren die Herausforderungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik größer als heute. Die Zeiten, in denen sich Deutschland im Schatten der USA durchlavieren konnte, sind vorbei. Doch der Ukraine-Krieg zeigt, dass eine zaudernde Bundesregierung den Erwartungen der NATO-Partner nicht gerecht wird. Deutschland unterstützt die Ukraine militärisch nur zögernd. In Kiew und den osteuropäischen Partnern wechseln sich Enttäuschung und Zorn über die selbst gewählte deutsche Schwäche ab. Europa – und mit ihm Deutschland – muss selbstständiger werden, wenn es nicht zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören will, sagt der Amerika-Experte Josef Braml in seinem neuen Buch. Loyal sprach mit Braml über seine Thesen.

Ihr Buch trägt den Titel „die transatlantische Illusion“. In Deutschland ist angesichts des Kriegs in der Ukraine eher von der „russischen Illusion“ die Rede, der deutsche Politiker in den vergangenen 20 Jahren aufgesessen sind. Warum machen wir uns auch Illusionen über Amerika? Und welche sind das?

Nach der Desillusionierung deutscher „Ostpolitiker“ ist es für „Transatlantiker“ umso nötiger geworden, ebenso nüchtern nach Westen zu sehen. Die durch den Aggressor Wladimir Putin radikal veränderte Weltordnung sowie Amerikas innere Schwäche und geostrategische Umorientierung nach Asien zwingen Berlin und Paris, vor allem auch im militärischen Bereich, gemeinsam voranzugehen, um eine europäische Verteidigungsunion zu schaffen. Wenn Europa seine Sicherheit und seinen Wohlstand im 21. Jahrhundert bewahren will, darf es seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht auf Illusionen aufbauen, auch nicht auf die transatlantische Illusion.

Sie beklagen, dass Deutschland in der Außenpolitik zu viel mit „Werten“ hantiert und zu wenig mit „Interessen“. Warum sind Werte und Interessen nicht deckungsgleich?

Liest man den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP, dann fällt ein merkwürdiges Ungleichgewicht ins Auge: Während das Wort „Werte“ in den außenpolitischen Passagen fast auf jeder Seite vorkommt, sucht man das Wort „Interessen“ beinahe vergeblich, so als hätte die Bundesrepublik keine wirtschaftlichen oder geostrategischen Interessen, und als ginge es nur darum, sich idealistisch für das Wohl der Welt zu engagieren.

„Das Wort ‚Interessen‘ sucht man im Koalitionsvertrag beinahe vergeblich.“

Welches sind genuin deutsche Interessen in Bezug auf die internationale Politik?

Man muss nicht so weit gehen wie die „realistische Schule“ in der Analyse der internationalen Beziehungen, die das Verhalten von Staaten vor allem anhand des Begriffspaars „Macht“ und „Interessen“ untersucht. Aber natürlich hat auch Deutschland ganz klassische Interessen: an Absatzmärkten, an Rohstoffen und Energieträgern, an Handelswegen und auch an Sicherheit.

Deutschland hat wie jedes andere Land eigene, aber keine autonomen, sondern „verflochtene“ Interessen. In vielen Politikfeldern ist es offensichtlich, dass nationale Interessen nur durch internationale Kooperation gewahrt werden können. Angesichts globaler Umweltrisiken wie des Klimawandels sowie transnationaler Sicherheitsbedrohungen wie der aktuellen Covid-19-Pandemie sollte schon der gesunde Menschenverstand nahelegen, dass die Repräsentanten von Staaten – egal, welcher Regierungsform – im Sinne gemeinsamer Interessen kooperieren.

Doch die Interessen Deutschlands sind nicht immer identisch oder kompatibel mit denen anderer Staaten, auch nicht mit jenen der vermeintlichen Schutzmacht USA. Denn es war kein Geringerer als der Präsident der Weltmacht USA, Donald Trump, der beide Grundpfeiler deutscher Außenpolitik ins Wanken brachte, indem er das NATO-Bündnis infrage stellte und das für ihn „feindliche“ Europa nach dem römischen Prinzip des „divide et impera“ zu teilen suchte, um die einzelnen Staaten dann noch besser beherrschen zu können.

Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass Donald Trump 2024 die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnt – oder ein Vertrauter von ihm? Und was passiert dann auf der internationalen Bühne?

Schon in zwei Jahren könnte bei den US-Präsidentschaftswahlen erneut Donald Trump oder ein anderer Putin-Freund aus den Reihen der Republikaner ins Weiße Haus einziehen. Ebenso wenig ist das Worst-Case-Szenario weiterer gewalttätiger Auseinandersetzungen bei einem künftigen Machtübergang in Washington auszuschließen. Doch selbst die Ruhe vor dem nächsten möglichen Sturm auf das Kapitol lässt für die Demokraten und die Regierungsfähigkeit der Weltmacht nichts Gutes erwarten.

Wie nehmen Sie die politische Stimmung in den Vereinigten Staaten bei Ihren Besuchen und Gesprächen dort aktuell wahr?

Der noch amtierende US-Präsident Joe Biden wird voraussichtlich schon bei den Zwischenwahlen im Herbst eine oder gar beide Kammern des Kongresses und damit den Rest seiner politischen Handlungsfähigkeit verlieren. Bidens Blockade könnte auch Trumps Wiederwahl befördern.

Es wäre also höchste Zeit, die angeschlagene US-Demokratie vor allem auch mit einer Wahlrechtsreform wetterfest zu machen. Stattdessen bemüht der innenpolitisch handlungsunfähige US-Präsident Biden eine wertegeleitete Außenpolitik gegen die autokratischen Systemrivalen China und Russland.

Wie bewerten Sie die Politik der USA gegenüber Europa seit Jahresbeginn? Alle dachten, Amerika würde sich von Europa abwenden und sich ganz neu gegenüber China aufstellen. Der Ukraine-Krieg hat das einiges verändert. Von China ist kaum mehr die Rede …

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkt der Westen geschlossen wie lange nicht. Doch die  Weltmacht USA ist angeschlagen. Sie wird sich zunehmend auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Zu glauben, die USA würden unsere Interessen auch in Zukunft mitvertreten, ist die transatlantische Illusion.

(Ab hier nicht mehr im Heft abgedruckt:)

Amerikas absehbare Überforderung in einem durchaus plausiblen Mehrfrontenkrieg – gegen Russland in Europa und zugleich gegen China in Asien – nötigt Europa umso mehr, sich eigenständiger aufzustellen, um seine Werte und Interessen zu verteidigen.

Welchen Rat geben Sie den europäischen Mitgliedern der NATO aus den Erfahrungen der Trump-Jahre 2017 bis 2021 und aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine? Wie muss NATO-Europa sich künftig aufstellen?

Transatlantisch ist gut, möglichst autark aber besser – der brutale russische Überfall auf die Ukraine sollte für Europa ein Weckruf sein. Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen der russischen Führung vorbeugen. Aber auch gegen die Launen einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft wären sie gewappnet.

Wenn die Europäische Union ein „Global Player“ und nicht Spielball anderer Mächte sein soll, muss allen voran Deutschland seine Außenpolitik auch gegenüber den USA entscheidend korrigieren. Damit ist nicht gemeint, die NATO zu verlassen oder das transatlantische Bündnis aufzukündigen. Beides wäre in der gegenwärtigen Lage sicherheitspolitisches Harakiri. Wohl aber geht es darum, den Weg in Richtung einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen, mit dem langfristigen Ziel eines Bündnisses auf Augenhöhe.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist soeben beim Verlag C.H.Beck erschienen.