Die neue Weltordnung stellt Deutschlands und Europas Außenpolitik vor völlig neue Herausforderungen. Nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine ist die Weltpolitik im Umbruch. Umso mehr wird der geo-ökonomische Weltkonflikt zwischen den USA und China auch Europa in Mitleidenschaft ziehen, analysiert der USA-Experte Josef Braml in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Politische Studien.
Können wir es uns leisten, diesen Wandel zu ignorieren? Reicht es aus, die alten Rezepte und Strategien zu wiederholen, mit denen die Bundesrepublik sich die weltpolitischen Zumutungen in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger hat vom Hals halten können? Wenn wir unseren Wohlstand und unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert bewahren wollen, dürfen wir unsere Politik nicht auf Illusionen aufbauen. Wir müssen die weltpolitischen Entwicklungen in der gebotenen Schärfe analysieren und jenseits der alten Graben- und Positionskämpfe darüber nachdenken, wie wir uns in der sich herausbildenden neuen Weltordnung behaupten können.[1]
Deutschland muss sich den weltpolitischen Entwicklungen stellen.
Werte statt Interessen?
Doch obwohl sich in der politischen Klasse alle einig sind, dass außenpolitisch große Aufgaben auf uns zukommen, spielte die Außenpolitik im Bundestagswahlkampf 2021 kaum eine Rolle. Selbst nach dem Debakel des Afghanistan-Abzugs gab es keine Diskussionen über grundsätzliche Fragen, sondern nur moralische Scheingefechte auf Nebenkriegsschauplätzen. Das ist bemerkenswert für ein Land, dessen Sicherheit prekär ist und dessen international verflochtene Wirtschaft sich den weltpolitischen Gegebenheiten in besonderer Schärfe ausgeliefert sieht.
Anlässlich des Afghanistan-Debakels dominierte in unseren Debatten der Vorwurf an Washington, seine Verbündeten bei einer eigentlich vorhersehbaren politischen Entscheidung nicht konsultiert und informiert zu haben. Nicht erst seit Amerikas Rückzug aus Afghanistan sollte jedoch Europas Regierungsverantwortlichen klar geworden sein, dass sich der Alte Kontinent nicht mehr auf die früheren Sicherheitsversprechen verlassen kann.
Anstatt über Washingtons hemdsärmeligen Umgang mit seinen Alliierten zu lamentieren, hätte eigentlich ein anderer Sachverhalt im Zentrum der Debatte stehen müssen, nämlich die Tatsache, dass Europa nach wie vor nicht in der Lage ist, seine Sicherheitsinteressen selbst wahrzunehmen. Und zwar nicht nur am Hindukusch, wo man lange darüber diskutieren kann, wie sinnvoll der Einsatz überhaupt war. Sondern ebenso in der eigenen Nachbarschaft. Das wohlfeile Schimpfen über die amerikanische Arroganz lenkt im Grunde nur von einem eigenen Versagen ab, dem Versagen nämlich, dass Europa nicht fähig ist, sich selbst zu verteidigen. Das macht uns erpressbar und führt dazu, dass man den deutschen und europäischen Interessen in Washington im Ernstfall genau das Gewicht beimisst, das sie auf die Waage bringen.
Liest man den Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP, dann fällt ein merkwürdiges Ungleichgewicht ins Auge: Während das Wort „Werte“ in den außenpolitischen Passagen fast auf jeder Seite vorkommt, sucht man das Wort „Interessen“ beinahe vergeblich, so als hätte die Bundesrepublik keine wirtschaftlichen oder geostrategischen Interessen, und als ginge es nur darum, sich idealistisch für das Wohl der Welt zu engagieren.
Wir müssen unsere nationalen Interessen definieren und außenpolitisch vertreten.
Man muss nicht so weit gehen wie die „realistische Schule“ in der Analyse der internationalen Beziehungen, die das Verhalten von Staaten vor allem anhand des Begriffspaars „Macht“ und „Interessen“ untersucht. Aber natürlich hat auch Deutschland ganz klassische Interessen, an Absatzmärkten, an Rohstoffen und Energieträgern, an Handelswegen und auch an Sicherheit.
Die merkwürdige Scheu, diese zu benennen, dürfte in den Hauptstädten dieser Welt eher für Misstrauen sorgen, ist aber historisch gut zu erklären. Denn die Geschichte der alten Bundesrepublik war gewissermaßen eine Zwischenzeit der „Machtvergessenheit“[2]. Die Bonner Republik zog aus ihrer desaströsen Vorgeschichte, insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus, ihre Lehren, indem sie statt Macht- „Verantwortungspolitik“ betrieb, das Denken in nationalen Interessen tabuisierte und ihre Sicherheit der Sieger- und Schutzmacht USA anvertraute. Mit dieser Strategie ist die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten gut gefahren. Aber taugt sie auch für die Zukunft?
Bestimmung eigener, verflochtener Interessen
Die Bestimmung von Interessen musste und muss im Deutschland der Nachkriegszeit auf der Grundlage des Grundgesetzes erfolgen und ist daher notwendigerweise normativ gebunden. Daher wäre es auch ein Missverständnis, in der politischen Debatte einen Gegensatz zwischen „Interessen“ und (moralisch höheren) „Werten“ konstruieren zu wollen. „‚Interessen‘ betreffen […] stets Werte und materielle Güter, ‚nationale Interessen‘ beinhalten dementsprechend Macht- und Wohlstandsziele ebenso wie Ideale, sie beziehen sich nicht nur auf das ‚Sein‘, sondern auch auf das ‚Sollen‘“, erläuterte der deutsche Politikwissenschaftler Hanns Maull, der als Vordenker einer deutschen „Zivilmacht“ nicht gerade im Verruf steht, noch dem alten Großmachtdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet zu sein.[3]
Die normativen Vorgaben des Grundgesetzes umfassen das Friedensgebot und das Ziel der europäischen Integration (Präambel), den Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht (Art. 25 GG), das Verbot von Vereinigungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten (Art. 9, Abs. 2 GG), sowie die Achtung und Wahrung der Menschenrechte weltweit als Grundlage des Friedens (Art. 1, Abs. 2 GG).[4] Auf der Basis dieser Werte stellte die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Juli 2016 das weiterhin gültige „Weißbuch“ vor.[5] Darin werden die folgenden „sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands“ aufgezählt:
• „Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität unseres Landes;
• Schutz der territorialen Integrität, sowie der Souveränität der Bürgerinnen und Bürger unserer Verbündeten;
• Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts;
• Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel;
• Förderung des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern in der Welt;
• Vertiefung der europäischen Integration und
• Festigung der transatlantischen Partnerschaft.“
Deutschland hat eigene, aber keine autonomen Interessen.
Gemäß dieser Interessendefinition ist deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zum einen darauf ausgerichtet, die internationalen Beziehungen durch Institutionen zu verrechtlichen und damit berechenbarer zu machen, sowie zum anderen, durch eine international handlungsfähige Europäische Union und die Zusammenarbeit mit Verbündeten ihre Gestaltungsfähigkeiten zu verbessern. Angesichts der elementaren sicherheitspolitischen Abhängigkeit Deutschlands, insbesondere von der sogenannten Schutzmacht USA, ist dies auf den ersten Blick nur folgerichtig: „Nur im Verbund mit anderen kann Deutschland sein Territorium und seine offene Gesellschaft schützen, seine begrenzten Ressourcen effektiv einsetzen sowie seine Innovations- und Produktivkräfte entfalten. Wahrnehmung deutscher Interessen bedeutet deshalb immer auch Berücksichtigung der Interessen unserer Verbündeten und befreundeten Nationen.“ Gleichwohl wird im Nachsatz auch deutlich gemacht, dass zugleich „unsere Handlungsfähigkeit im internationalen – besonders europäischen und transatlantischen – Verbund auf einer klaren nationalen Positionsbestimmung“ beruht.
Demnach hat Deutschland zwar eigene, aber keine autonomen, sondern „verflochtene“ Interessen.[6] In vielen Politikfeldern ist es offensichtlich, dass nationale Interessen nur durch internationale Kooperation gewahrt werden können. Angesichts globaler Umweltrisiken wie des Klimawandels sowie transnationaler Sicherheitsbedrohungen wie der aktuellen COVID-19-Pandemie sollte schon der gesunde Menschenverstand nahelegen, dass die Repräsentanten von Staaten – egal, welcher Regierungsform – im Sinne gemeinsamer Interessen kooperieren.
Transatlantische Interessengegensätze
Doch die Interessen Deutschlands sind nicht immer identisch oder kompatibel mit denen anderer Staaten, auch nicht mit jenen der vermeintlichen Schutzmacht USA. Die Einsicht in eine veränderte Interessenslage ihrer sogenannten Freunde fällt Deutschlands Regierungsverantwortlichen und geistigen Eliten besonders schwer, zumal deutsche Außenpolitik, geläutert durch die historische Erfahrung des Nationalsozialismus, seit der Nachkriegszeit zwei zentrale Interessen verfolgt hat: die nordatlantische Bindung an die USA und die Integration Europas. Beides war ausschlaggebend dafür, dass Deutschland Souveränität zurückerhielt und die Wiedervereinigung erlangte. Diese westliche Einbettung war insbesondere auch im Interesse der anderen europäischen Staaten, um die „Deutsche Frage“ abschließend zu beantworten und einen künftigen „Sonderweg“ Deutschlands zu verhindern.[7]
Es war jedoch kein Geringerer als der Präsident der Weltmacht USA, Donald Trump, der beide Grundpfeiler deutscher Außenpolitik ins Wanken brachte, indem er das NATO-Bündnis infrage stellte und das für ihn „feindliche“ Europa nach dem römischen Prinzip des „divide et impera“ zu teilen suchte, um die einzelnen Staaten dann noch besser beherrschen zu können. Die Lage für Deutschland und Europa ist umso kritischer, wenn man bedenkt, dass Donald Trump kein Unfall der amerikanischen Geschichte war, sondern ein Symptom tieferer, in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik der nicht mehr so Vereinigten Staaten von Amerika schon seit Längerem schwelender Grundprobleme ist.[8]
Es hätte nur wenige Stimmen in den entscheidenden „Swing States“ gebraucht und statt Joe Biden säße weiterhin Donald Trump im Weißen Haus. Niemand kann voraussagen, ob das Pendel bei den nächsten Wahlen nicht in die andere Richtung ausschlägt. Trump hat die republikanische Partei fest in der Hand. Es ist nicht auszuschließen, dass er wieder antritt. Aber auch wenn dem nicht so sein sollte: Andere republikanische Kandidaten könnten noch herausfordernder für Deutschland und Europa sein. Bleibt es bei der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA, dann machen wir uns in der Konsequenz abhängig von den höchst volatilen Ergebnissen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Das ist eine höchst riskante und wenig nachhaltige Strategie.
Die USA betreiben schon seit Längerem eine „America First“-Politik.
Hinzu kommt noch, dass die Demokraten schon aus innenpolitischen Gründen im Kern ebenfalls eine „America First“-Politik betreiben. Zwar sind sie im Ton konzilianter und insgesamt kompromissbereiter als Trump. Doch Europa hat auch für sie nicht mehr die Bedeutung vergangener Tage. Amerikas Abwendung von Europa und seine „Hinwendung nach Asien“ wurde schon von Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama eingeläutet. Und Obamas damaliger Vizepräsident Joe Biden führt diesen Kurs nun umso entschiedener fort, um dem Rivalen China zu begegnen, der in Ostasien Washingtons Hegemonie herausfordert. Amerikas Anspruch, trotz zunehmend knapper werdender Ressourcen eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, dürfte die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen.
Es gibt jedoch in letzter Zeit und vor allem seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt Stimmen, die fordern, die transatlantische Partnerschaft zu stärken. Wenn damit gemeint ist, intensive Beziehungen zu Washington zu pflegen und sich um einen verstärkten Austausch zu bemühen, so ist daran auch gar nichts falsch. Die USA waren und sind für Deutschland ein wichtiger Partner. Der Glaube allerdings, dass Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher unsere Sicherheit garantieren und unsere Interessen mitvertreten wird, ist eine transatlantische Illusion.
Steigende chinesisch-amerikanische Spannungen drohen zudem die regelbasierte Weltwirtschaftsordnung zu schwächen, auf die exportorientierte Länder wie Deutschland besonders angewiesen sind. Im Ringen um technologische und wirtschaftliche Einflusssphären könnten die USA den Druck auf abhängige Drittstaaten verstärken, mit dem Entzug ihres militärischen und sicherheitsdienstlichen Schutzes drohen und sie vor die Wahl stellen, entweder mit Amerika oder mit China Geschäfte zu betreiben. Das kann so weit gehen, dass wirtschaftliche Waffen wie der US-Dollar und Sekundär-Sanktionen in Stellung gebracht werden, um europäische Staaten zu zwingen, ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber China preiszugeben.
Um ihre Interessen zu verteidigen, muss deutsche und europäische Politik ihrerseits die noch vorhandenen eigenen Machtressourcen einsetzen, so sie international Gestaltungskraft zurückgewinnen will. Wenn die Europäische Union ein „Global Player“ und nicht Spielball anderer Mächte sein soll, muss allen voran Deutschland seine Außenpolitik auch gegenüber den USA entscheidend korrigieren.
Europa braucht ein von den USA unabhängiges Verteidigungsbündnis.
Damit ist nicht gemeint, die NATO zu verlassen oder das transatlantische Bündnis aufzukündigen. Beides wäre in der gegenwärtigen Lage sicherheitspolitisches Harakiri. Wohl aber geht es darum, den Weg in Richtung einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen, mit dem langfristigen Ziel eines Bündnisses auf Augenhöhe. Das ist kein einfacher Weg und auch kein kurzer. Und es ist auch nicht gesagt, dass wir dafür genügend Zeit bekommen. Denn niemand kann wissen, wann in Washington erneut jemand wie Trump im Weißen Haus sitzt. Aber sollte man es deswegen gar nicht erst probieren?
Weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Die Europäer werden zudem einen eigenen Weg finden müssen, das Verhältnis zu Russland und die damit verbundenen Risiken und Chancen zu handhaben. Denkbar – und historisch bewährt – ist die Kombination zweier Vorgehensweisen: Diplomatie und die durch Putins kriegerisches Vorgehen wieder evident sinnvoll gewordene glaubwürdige militärische Abschreckung.
Schlagkräftige Diplomatie vonnöten
Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen der russischen Führung vorbeugen. Aber auch gegen die Launen einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft wären sie gewappnet.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung nun verstärkt in unsere Sicherheit investiert. Wie von Washington seit Längerem angemahnt, will sie künftig mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung fürs Militär ausgeben. Hinzu kommt das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das aber nicht – wie mit dem Kauf von F35-Kampfjets – vorrangig dem wackligen Schutzversprechen der USA Tribut zollen sollte. Das Geld muss vielmehr in eigene militärische Fähigkeiten investiert werden, auch um technisches und industrielles Know-how in Europa zu halten.
Dass die Europäer durchaus die Voraussetzungen dafür hätten, sich selbst zu verteidigen, belegt die Tatsache, dass die EU-Mitgliedstaaten zusammen fast dreimal so viel wie Russland für Verteidigung ausgeben. Allein Frankreich und Deutschland wenden zusammen rund zwei Drittel mehr für Rüstung auf als Russland.[9] Sie hätten also die finanziellen und militär-industriellen Voraussetzungen dafür, sich gegenüber Russland zu verteidigen. Nicht sehr viel mehr, sondern effizientere, das heißt gemeinsame Investitionen sind dafür zweckdienlich, um die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, indem man im europäischen Rahmen Waffensysteme gemeinsam einkauft und weiterentwickelt.
Um in die eigene Sicherheit zu investieren, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken, um Europas Verteidigungsfähigkeit zu verbessern und seine industrielle Basis zu erhalten. In den nächsten beiden Jahrzehnten sind umfangreiche Ressourcen (schätzungsweise bis zu 300 Milliarden Euro) für das geplante französisch-deutsche Luftkampfsystem, das Future Combat Air System (FCAS), vonnöten, um Europas Souveränität im militärischen Bereich und im IT-Sektor zu stärken. Ohne weitere politische Führung aus Berlin und Paris sowie gesamteuropäische Kooperationsanreize (vor allem auch finanzieller Art) für die jeweiligen Rüstungsindustrien der beteiligten Länder ist indes ein Scheitern dieses Zukunftsprojektes nicht auszuschließen. Alle deutsch-französischen Initiativen müssten indes offen bleiben für die Mitwirkung anderer europäischer Staaten.
Die europäische Verteidigungsstrategie sollte die nukleare Abschreckung einschließen.
Deutschland sollte mit Frankreich eine gemeinsame Strategie verfolgen, die auch die nukleare Abschreckung beinhaltet. Denn Paris wäre durchaus bereit, seinen atomaren Schutz in eine europäische Gesamtstrategie einzubringen, wohlgemerkt für einen europäischen Pfeiler innerhalb der NATO. Deutschlands Teilhabe an der „Force de Frappe“ wäre nicht minder sicher, vielleicht sogar zielsicherer als die bisherige Teilhabe an von Kampfjets zu transportierenden taktischen Nuklearwaffen der USA, da französische Stand-off-Systeme die Abschreckung glaubwürdiger machen als die derzeitigen Freifallbomben. Mit der von US-Präsident Joe Biden beabsichtigten Begrenzung der nuklearen Abschreckung auf ausschließlich atomare Bedrohungen – der sogenannten „Sole Purpose“-Strategie der USA – müssten die europäischen Nato-Länder ohnehin ihre eigene Abschreckungsstrategie gegenüber nicht nuklearen Bedrohungen grundlegend überdenken.
Durch „Pooling & Sharing“ ihrer Fähigkeiten könnten die Europäer auch ihrer Diplomatie mehr Gewicht verleihen. Schon lange vor Putins Angriff auf die Ukraine hatte Wolfgang Ischinger, einer der erfahrensten Diplomaten der machtvergessenen Bundesrepublik, angemahnt: „Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit.“[10]
Aus einer Position der Stärke, sozusagen mit schlagkräftiger Diplomatie, könnten die europäischen Staaten glaubwürdiger mit Russland verhandeln und durch vertrauensbildende Maßnahmen sowie neue Initiativen in Richtung eines Systems kollektiver Sicherheit vor allem auch das Kriegsleid in der Ukraine beenden und auch das Risiko minimieren, dass Moskau und Washington sich – in einer möglichen zweiten Amtszeit Donald Trumps – auf Kosten der Europäer verständigen.
Sicherheitsdilemma verringern
Ebenso wichtig wie die Interessen „befreundeter“ Staaten illusionslos zu analysieren, ist es, die Interessensgegensätze und -gemeinsamkeiten mit rivalisierenden Staaten auszuloten. Denn es besteht auch immer die Gefahr, dass die Bedrohungswahrnehmungen beider Seiten sich in selbsterfüllende Prophezeiungen verwandeln. In der militärisch ausgerichteten „realistischen“ Perspektive sind Staaten und ihre Regierungsvertreter häufig in einem Macht- und „Sicherheitsdilemma“[11] gefangen: Indem Staaten versuchen, ihre eigene Sicherheit durch Machterweiterung zu erhöhen, schüren sie das Misstrauen und die Ängste anderer Staaten und verleiten sie dazu, ihrerseits Vorkehrungen zu treffen. Das individuelle Streben, insbesondere der USA, Chinas und Russlands, nach Sicherheit und Macht erzeugt am Ende nur größere Unsicherheit für alle Seiten.
Deutschland und Europa sollten künftig noch größere diplomatische Anstrengungen unternehmen, um dieses „Sicherheitsdilemma“ im Verhältnis zu Russland und China zu verringern. Es ist problematisch, diese Aufgabe vor allem an die Vereinigten Staaten zu delegieren – deren aktuelle Herausforderungen, Geschichte und Geographie andere geopolitische Interessen nahelegen.
Heute steuert die Welt auf eine multipolare Ordnung zu, in der die USA ein wichtiger, aber nicht mehr der allein dominierende Pol sind. Doch mit dieser Veränderung hat man sich in Washington nicht abgefunden, weshalb es dort im Umgang mit revisionistischen Mächten wie Russland und China nicht bloß um die Durchsetzung der regelbasierten internationalen Ordnung geht, sondern auch um die Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonie.
Während die USA vor allem China eindämmen wollen, hat Europa weniger ein Problem mit dem chinesischen Aufstieg an sich, von dem es vor allem wirtschaftlich profitiert, sondern mehr mit Chinas fehlender Bereitschaft, sich an die Spielregeln der liberalen internationalen Ordnung zu halten. Deutschland und Europa sollten sich deshalb nicht länger der transatlantischen Illusion hingeben, dass die „Schutzmacht“ USA für die Sicherheit und den Wohlstand der Alten Welt mit sorgt. Sonst drohen sie zum Kollateralschaden des weltumspannenden Konfliktes zwischen der angeschlagenen Weltmacht USA und dem aufstrebenden China zu werden.
Dr. Josef Braml ist Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission und Autor des Buches „Die transatlantische Illusion“, das beim Verlag C.H.Beck erschienen ist.
Anmerkungen:
[1] Dieser Beitrag basiert in wesentlichen Teilen auf einer umfassenderen Studie des Autors: Braml, Josef: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können, München 2022.
[2] So lautete die Kritik des Historikers Schwarz, Hans-Peter: Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985.
[3] Maull, Hanns W.: Nationale Interessen! Aber was sind sie?, in: Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 62–76.
[4] Vgl. Bierling, Stefan: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Normen, Akteure, Entscheidungen, München 1999, S. 9 ff.
[5] Deutsche Bundesregierung: Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur „Zukunft der Bundeswehr“, Berlin, 13.7.2016, insbesondere S. 24–25.
[6] Senghaas, Dieter: Verflechtung und Integration, in: Die Zukunft der deutschen Außenpolitik (Arbeitspapiere zur Internationalen Politik 72), hrsg. von Karl Kaiser und Hanns W. Maull, Bonn 1992, S. 35–52.
[7] Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, München 2000.
[8] Braml, Josef: Trumps Amerika – Auf Kosten der Freiheit. Der Ausverkauf der amerikanischen Demokratie und die Folgen für Europa, Berlin/Köln 2016 (aktualisierte Neuausgabe); 2020 (aktualisierte Taschenbuchausgabe).
[9] The European Union Must Face Up to the Real Russia, in: The Economist, 11.2.2021, https://www.economist.com/europe/2021/02/11/the-european-union-must-face-up-to-the-real-russia, Stand: 21.3.2022.
[10] Ischinger, Wolfgang: „Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit“, in: Atlantik-Brücke, https://www.atlantik-bruecke.org/interview-ischinger/, Stand: 21.3.2022.
[11] Grundlegend dazu: Herz, John: Idealistischer Internationalismus und das Sicherheitsdilemma, in: Staatenwelt und Weltpolitik, hrsg. von demselben, Hamburg 1974, S. 39–56.