Herr Braml, das Nato-Mitglied Türkei greift in Syrien Kämpfer an, die von einem anderen, weit mächtigeren Nato-Mitglied ausgerüstet und unterstützt werden – den USA. Gibt es einen ähnlichen Fall in der Geschichte der Nato?
Braml: Mir jedenfalls ist nichts Vergleichbares bekannt.
Man könnte sagen, dass sich auf dem Schlachtfeld in Nordsyrien jetzt zwei Nato-Partner als Feinde gegenüber stehen – kann aus diesem Konflikt eine Krise für die Nato werden?
Das ist keine Frage – es ist eine Krise! Das ist ja alles nicht neu. Als die Türkei 2015 erstmals in den Irakkrieg eingegriffen hat und gegen den Islamischen Staat (IS) vorgegangen ist, hat sie bewusst in Kauf genommen, dass der IS sich mit Anschlägen in der Türkei rächt.
Ich habe schon damals angenommen, dass die Türken einen heimlichen Deal mit den USA haben und die Amerikaner ihnen garantiert haben, dass sie keinen Kurdenstaat in der Region dulden. Auf der Grundlage dieses Deals haben die Türken das Anschlagsrisiko stillschweigend akzeptiert.
Wie kann die Nato auf diese Krise reagieren?
Haben Sie etwa von einer Reaktion des Nato-Generalsekretärs gehört? Ich nicht! Die Nato reagiert nicht – daran sieht man, dass es Absprachen gibt und dass diese Absprachen funktionieren.
Das hieße, dass das größte Militärbündnis des Westens in einem weltpolitischen Konflikt manövrierunfähig ist?
Das ist noch das kleinste Problem der Nato. Ihr wirkliches Problem ist, dass die Amerikaner sich fragen, ob sie die Nato überhaupt noch brauchen. So, wie die USA handeln, ist ihnen die Nato nur noch zweitrangig. Und ohne die USA ist dieses Militärbündnis eine leere Hülse.
Mit ihrem Eingreifen in den Syrienkrieg stärkt die Türkei den syrischen Machthaber Assad und gleichzeitig Russland, das schon lange auf Assads Seite steht. Das soll für die USA zweitrangig sein?
Die US-Regierung unter Oberbefehlshaber Trump sieht nicht in der Nato, sondern in ihrer eigenen militärischen Machtfülle den entscheidenden Wettbewerbsvorteil und setzt deshalb auf das Recht des Stärkeren.
Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Herbert Raymond McMaster, und der Vorsitzende des Nationalen Wirtschaftsrats, Gary Cohn, haben erklärt, dass US-Präsident Trump die Welt nicht als globale Gemeinschaft sieht, sondern als eine Arena, in der Nationen, NGOs und Unternehmen um ihren Vorteil konkurrieren.
In der Denkschule der amerikanischen „Realisten“ gibt es nur Staaten, die ihre eigenen nationalen Interessen rücksichtslos durchsetzen wollen. Diese sozialdarwinistische Sicht widerspricht der geltenden Vorstellung einer Weltordnung, die auf Regeln beruht.
Was heißt das für die Kurden in Syrien?
Die USA haben schon unter Barack Obama die Kurden im Stich gelassen, nun ein weiteres Mal unter Trump. Sie haben 2015 erlaubt, dass die Türkei im Irak nicht nur den IS, sondern auch die Kurden bombardiert hat. Jetzt erlauben sie den Einmarsch nach Syrien und gestatten der Türkei, diejenigen zu bekämpfen, die gerade noch Verbündete der USA waren.
Gäbe es denn einen Weg für die Nato, wieder handlungsfähig zu werden?
Dafür müsste die Nato handeln, wie Trump es fordert: Militärisch mehr leisten, mehr für Rüstung ausgeben. Ich glaube, dass wir diesen Tribut zahlen müssen.
Und es wird nicht ausreichen, mehr auszugeben – es wird auch darum gehen, dass wir unsere Waffen in den USA kaufen und damit gleichzeitig Trumps Problem mit unserem Außenhandelsüberschuss lindern.
Ich fürchte, wir werden auch den Traum von einem deutsch-französischen Kampfflugzeug aufgeben müssen. Wir werden diese Technologie über den US-Kampfjet F-35 in den USA kaufen müssen.
Aber was hätte die Nato davon?