America First – Europa sekundiert?

Amerikas weitere Abwendung von Europa nötigt deutsche und europäische Entscheider ebenso zum strategischen Umdenken, analysiert der USA-Experte Josef Braml in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Die Bundeswehr“.

Bei den jüngsten US-Zwischenwahlen konnten die Demokraten zwar ihre Senatsmehrheit verteidigen. Sie haben aber ihre Mehrheit im Abgeordnetenhaus verloren. US-Präsident Biden hat künftig noch größere Schwierigkeiten, über den Gesetzweg seine innenpolitischen Vorhaben umzusetzen und außenpolitisch Kurs zu halten.

In der Außenpolitik wird künftig vieles auf den Prüfstand gehoben, zuvorderst Amerikas Ukraine-Politik, zumal die Unterstützung Kiews mit amerikanischen Steuergeldern finanziert wird und damit von beiden Kongress-Kammern bewilligt werden muss. US-Regierungsbeamte bezweifeln, dass sie nach den Kongresswahlen große Hilfspakete für die Ukraine verabschieden können. Der künftige Sprecher im Abgeordnetenhaus, Kevin McCarthy, hatte bereits im Wahlkampf den republikanischen Wählerinnen und Wählern versprochen, dass es künftig keine Blanko-Schecks mehr für die Ukraine geben würde.

Präsident Biden wird zudem von den eigenen Parteifreundinnen und -freunden des progressiven Flügels bedrängt. Bereits kurz vor den Zwischenwahlen legten 30 Abgeordnete um Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar ihrem Präsident Biden eine Kursänderung in der Ukraine-Politik nahe: Nach ihrem Dafürhalten müsse Amerikas Unterstützung für die Ukraine künftig mit „proaktiven diplomatischen Vorstößen“ verbunden werden, um „einen realistischen Rahmen für eine Waffenruhe zu finden“.

Aufgrund vor allem auch innenpolitisch motivierter Prioritätenverschiebungen wird Europa künftig wohl noch stärker in die Pflicht genommen, die immensen Herausforderungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft selbst zu bewältigen. Angesichts der absehbaren sozialen, wirtschaftlichen und innenpolitischen Probleme in den USA sowie der aus Washingtons Sicht größeren Bedrohung durch China dürfte sich Amerikas Aufmerksamkeit ohnehin verschieben.

In der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der Biden-Regierung wurde Russland zu einer „akuten“ Bedrohung herabgestuft, während China als „fortschreitende (pacing) Bedrohung“ angeführt wurde. Die aktuelle und sich zuspitzende Auseinandersetzung um den Status Taiwans verdeutlicht die Gefahr, dass sich Washington und Peking immer mehr in ein Sicherheitsdilemma manövrieren – das ähnlich wie die russisch-amerikanische Rivalität in einen Krieg münden könnte, bei dem andere, vor allem auch die Europäer, einmal mehr den „Kollateralschaden“ tragen müssten.

Der Alte Kontinent bleibt zwar weiterhin im Interesse der USA, aber nur im peripheren. Die USA investieren im Ukrainekrieg nur das Nötigste, um Russland einerseits zu schwächen, aber andererseits gegen den Hauptrivalen China gewappnet zu bleiben. Damit signalisieren sie auch ihren asiatischen Alliierten Zuverlässigkeit. Ein weiteres Desaster wie in Afghanistan hätte Länder wie Japan und Südkorea daran zweifeln lassen, ob der hohe Tribut, den sie an die Schutzmacht zollen, wirklich das Geld wert ist.

Auch deutsche Entscheidungsträger, die durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen im militärischen Bereich die Sicherheit unseres Landes „outgesourct“, sprich völlig in die Hände des Obersten Befehlshabers in Washington gelegt haben, sollten sich fragen, ob sie sich durch ihr aktuelles Handeln nunmehr verantwortungsvoller auf mögliche Zukunftsszenarien einstellen sollten.

Donald Trumps Wahlsieg bei den US-Präsidentschaftswahlen in knapp zwei Jahren wäre nicht einmal das schlimmste Szenario. Die Mehrzahl der US-Bürger befürchten bereits den Untergang ihrer Demokratie. Immer mehr renommierte Experten und Expertinnen schließen einen Bürgerkrieg in den USA nicht mehr aus. Amerika könnte künftig noch mehr mit sich selbst beschäftigt sein und ohne die Pax Americana wäre auch die Nato nicht mehr viel wert.

Das bisherige und künftig wackelige Schutzversprechen der USA hat nichtsdestotrotz seinen Preis: Wer sich wie Deutschland bislang kein einsatzfähiges Militär geleistet hat, muss wohl oder übel Tribut an die Schutzmacht zollen und auch seine Interessen in der Handels- und Währungspolitik preisgeben. Um künftig weniger verwundbar zu sein, wären die Europäer gut beraten, nicht nur die eigene militärische Wehrhaftigkeit zu erhöhen, sondern auch den europäischen Wirtschaftsraum wetterfest zu machen.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist nunmehr schon in der dritten Auflage beim Verlag C.H.Beck erschienen.