Europas Abhängigkeit von den USA: Vom Ende zum Kollateralschaden der Geschichte

Eine strategische Wiederannäherung zwischen den USA und Russland erscheint derzeit höchst unwahrscheinlich. Aber aus Sicht von Sicherheitsexperten in Washington ist China die größere Bedrohung. Für Europa könnte es überlebenswichtig werden, eine glaubwürdige Abschreckung auch ohne die USA aufrechtzuerhalten, analysiert der USA-Experte Josef Braml in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenportal n-tv.

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die USA für einen historischen Moment die einzig verbliebene Supermacht, und es schien, als könnten sie den Globus nach ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modell neu ordnen. Das Wort vom „Ende der Geschichte“, dem endgültigen Sieg demokratischer und marktwirtschaftlicher Ordnungen gegen autokratische Systemvorstellungen, machte die Runde.

Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. In der Regierungszeit von George W. Bush überspannten die USA ihre Kräfte. Vor allem aber verspielten sie viel von ihrem „Soft Power“-Kapital, ihrer Anziehungskraft als liberales Vorbild, da sie sich selbst nicht an die internationalen Regeln und Werte hielten, die sie dem Rest der Welt, oft auch mit militärischem Nachdruck, mit ihrer „hard power“, empfahlen.

Amerikas Sendungsbewusstsein bleibt trotz dieser zweifelhaften Bilanz ungetrübt – trotz fehlgeschlagener Interventionen wie in Afghanistan oder im Irak, trotz Guantánamo und Abu Ghraib und trotz des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021, als die amerikanischen Sicherheitsbehörden und Militärs einen von ihnen befürchteten „Coup“ des widerwillig scheidenden Machthabers Donald Trump verhindern mussten.

Trumps Nachfolger Joe Biden bemüht weiterhin Amerikas Einheit und Vorbildrolle. Die nicht mehr so Vereinigten Staaten von Amerika sind jedoch tief gespalten. Die Republikanische Partei, die einst den Kampf gegen den „gottlosen Kommunismus“ führte, beugt sich einem Führer, der Putin ein „Genie“ nennt. Wo es gälte, sich der russischen Aggression entschieden zu widersetzen, belobigen Trumps Anhänger bewaffnete Aufständische, die das Parlament in Washington angegriffen haben. Zusätzlich schleifen die Republikaner das Wahlrecht, um Trump eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Für die USA wäre ein Bündnis von Russland und China ein Alptraum

Die von Trump nach wie vor dominierten Republikaner, von denen selbst die Mehrzahl ihrer Repräsentanten im Kongress den neu ins Amt gewählten Joe Biden nicht als ihren legitimen Präsidenten anerkennen, sind sich mit den Demokraten in fast nichts mehr einig – es sei denn, es geht gegen China.

Amerikas Abwendung von Europa und seine „Hinwendung nach Asien“ wurde schon von Donald Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama eingeläutet. Und Obamas damaliger Vizepräsident Joe Biden führt diesen Kurs nun umso entschiedener fort, um dem Rivalen China zu begegnen, der in Ostasien Washingtons Hegemonie herausfordert. Amerikas Anspruch, trotz zunehmend knapper werdender Ressourcen eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, dürfte die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen.

Strategisch denkende US-Sicherheitsexperten befürchten schon seit Längerem, dass Sanktionen gegen Russland, besonders solche im Energiebereich, den USA selbst schaden, weil sie Russland gewissermaßen zwingen, sich noch stärker nach Asien zu orientieren. Für die Weltenplaner in Washington ist ein festes strategisches Bündnis zwischen Russland und China ein sehr bedrohliches Szenario.

Bereits heute wären die USA nicht mehr in der Lage, einen Zweifrontenkrieg, also gegen Russland in Europa und gegen China in Asien, zu gewinnen. Das war bereits 2019 die Befürchtung von amerikanischen Verteidigungsbeamten und Militäranalysten. In Planspielen der Rand Corporation, des größten und renommiertesten amerikanischen Think-Tanks, in denen Großmachtkonflikte simuliert wurden, wäre in einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Russland und China eine Niederlage für die USA programmiert.

Europa könnte einem „Deal“ geopfert werden

Insofern ist es selbst nach Putins Waffengang in der Ukraine durchaus denkbar, dass sich die amerikanische Russland-Politik in Zukunft wandelt und damit die Europäer erneut vor Probleme stellt – allerdings vor völlig anders geartete. Analog zum machtpolitischen Kalkül des damaligen US-Sicherheitsberaters Henry Kissinger, der Präsident Nixon nahelegte, die Verbindung mit dem damals schwächeren China zu suchen, um die mächtigere Sowjetunion einzudämmen, könnte es heute ratsam sein, Russland zu umgarnen, um dem aufsteigenden und für die USA immer bedrohlicher werdenden China zu begegnen.

So fordert etwa Charles Kupchan, der am Council on Foreign Relations außenpolitische Ideen schmiedet und als Professor an der Georgetown University lehrt, schon seit Längerem eine Kurskorrektur von der Biden-Regierung. Anstatt Russland und China mit einer moralbasierten Wertepolitik zusammenzudrängen, sollten Biden und seine europäischen Verbündeten ganz pragmatisch versuchen, Russland nach Westen zu locken. Obwohl dies nach Putins völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine nicht einfacher werden dürfte, haben die USA laut Kupchan „eine beeindruckende Bilanz“ auch mit „unappetitlichen Regimen“ eine gemeinsame Basis zu finden.

Der Geopolitiker Putin, dem aktuell die Unzulänglichkeit seiner Militäroffensive in der Ukraine vor Augen geführt wird und der ebenso daran interessiert ist, Chinas raumgreifende Aktivitäten in Zentralasien einzudämmen, könnte von Washingtons Geostrategen weitere Anreize erhalten, indem etwa westliche Sanktionen – die vor allem auch der amerikanischen Wirtschaft selbst schaden – nach einem für beide Seiten akzeptablen Friedensschluss mit der Ukraine wieder gelockert werden, um russisches Wohlverhalten in anderen, für Amerika wichtigeren Regionen zu erwirken.

Europa insgesamt könnte so eine Erfahrung machen, mit der die osteuropäischen Staaten historisch bereits vertraut sind, nämlich dass die eigenen Interessen einem „Deal“ größerer Mächte geopfert werden. Sollte Donald Trump erneut ins Weiße Haus einziehen, würde diese Gefahr noch größer werden.

Europa muss sich selbst verteidigen können

Künftig könnte für uns also die Frage überlebenswichtig werden, wie sich eine glaubwürdige Abschreckung ohne Washington aufrechterhalten lässt. Um Europas Sicherheit und Zusammenhalt strategisch zu gewährleisten, gilt es bereits heute vorauszudenken und dementsprechend mutig zu handeln. Vertrauen in andere ist gut, eigene Verteidigungsfähigkeit ist besser, könnte eine für Europas Staaten zeitgemäße Abwandlung eines russischen Sprichwortes lauten.

Es ist höchste Zeit, dass die Europäer nicht mehr nur über die für eine europäische Friedensordnung weiterhin nötigen vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber Russland nachdenken, sondern sich auch über eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten Gedanken machen – im konventionellen wie im nuklearen Bereich. Das Ziel muss sein, möglichen Erpressungsversuchen oder gar Aggressionen der russischen Führung vorzubeugen.

Weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Deutschland und Europa sollten sich deshalb nicht länger der transatlantischen Illusion hingeben, dass die „Schutzmacht“ USA für die Sicherheit und den Wohlstand der Alten Welt mit sorgt. Sonst drohen sie zum Kollateralschaden des weltumspannenden Konfliktes zwischen der angeschlagenen Weltmacht USA und dem aufstrebenden China zu werden.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, ist soeben beim Verlag C.H.Beck erschienen.