Europa muss sich selbst verteidigen

Die durch Putins Krieg wieder sinnvoll gewordene glaubwürdige militärische Abschreckung darf kein Tabuthema mehr sein, argumentiert der USA-Experte Josef Braml in einem Gastbeitrag in der Sächsischen Zeitung.

Die Weltpolitik ist nicht erst seit Russlands völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine im Umbruch. Können wir es uns leisten, diesen Wandel zu ignorieren? Reicht es aus, die alten Rezepte und Strategien zu wiederholen, mit denen die Bundesrepublik sich die weltpolitischen Zumutungen in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger hat vom Hals halten können?

Es gibt in letzter Zeit und vor allem seit Wladimir Putins Attacke auf die Ukraine verstärkt Stimmen, die genau dies anzunehmen scheinen. Zentral ist ihre Forderung, die transatlantische Partnerschaft zu stärken. Wenn damit gemeint ist, intensive Beziehungen zu Washington zu pflegen und sich um einen verstärkten Austausch zu bemühen, so ist daran auch gar nichts falsch. Die USA waren und sind für Europa ein wichtiger Partner. Der Glaube allerdings, dass Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher dessen Sicherheit garantieren und unsere Interessen mit vertreten wird, ist eine Illusion.

Wenn wir unsere Sicherheit und unseren Wohlstand im 21. Jahrhundert bewahren wollen, dürfen wir unsere Politik nicht auf Illusionen aufbauen. Wir müssen die weltpolitischen Entwicklungen in der gebotenen Schärfe analysieren und jenseits der alten Graben- und Positionskämpfe darüber nachdenken, wie wir uns in der sich herausbildenden neuen Weltordnung behaupten können.

Weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Die Europäer werden zudem einen eigenen Weg finden müssen, das Verhältnis zu Russland und die damit verbundenen Risiken und Chancen zu handhaben. Denkbar – und historisch bewährt – ist die Kombination zweier Vorgehensweisen: Diplomatie und die durch Putins Vorgehen wieder evident sinnvoll gewordene glaubwürdige militärische Abschreckung.

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung nun verstärkt in unsere Sicherheit investiert. Wie von Washington seit Längerem angemahnt, will sie künftig mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung fürs Militär ausgeben. Hinzu kommt das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das aber nicht vorrangig dem wackligen Schutzversprechen der USA Tribut zollen sollte. Das Geld muss vielmehr in eigene militärische Fähigkeiten investiert werden, auch um technisches und industrielles Know-how in Europa zu halten.

Die EU-Länder geben zusammen fast dreimal so viel wie Russland für Verteidigung aus. Sie hätten also die finanziellen und militär-industriellen Voraussetzungen dafür, sich gegenüber Russland zu verteidigen. Nicht sehr viel mehr, sondern effizientere, das heißt gemeinsame Investitionen sind dafür zweckdienlich, um die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, indem man im europäischen Rahmen Waffensysteme gemeinsam einkauft und weiterentwickelt.

Um in die eigene Sicherheit zu investieren, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken, um Europas Verteidigungsfähigkeit zu verbessern und seine industrielle Basis zu erhalten. In den nächsten beiden Jahrzehnten sind umfangreiche Ressourcen (schätzungsweise bis zu 300 Milliarden Euro) für das geplante französisch-deutsche Luftkampfsystem, das Future Combat Air System (FCAS), vonnöten, um Europas Souveränität im militärischen Bereich und im IT-Sektor zu stärken. Ohne weitere politische Führung aus Berlin und Paris sowie gesamteuropäische Kooperationsanreize (vor allem auch finanzieller Art) für die jeweiligen Rüstungsindustrien der beteiligten Länder ist indes ein Scheitern dieses Zukunftsprojektes nicht auszuschließen. Alle deutsch-französischen Initiativen müssten indes offen bleiben für die Mitwirkung anderer europäischer Staaten.

Deutschland sollte mit Frankreich eine gemeinsame Strategie verfolgen, die auch die nukleare Abschreckung beinhaltet. Denn Paris wäre durchaus bereit, seinen atomaren Schutz in eine europäische Gesamtstrategie einzubringen, wohlgemerkt für einen europäischen Pfeiler innerhalb der NATO. Deutschlands Teilhabe an der „Force de Frappe“ wäre nicht minder sicher, vielleicht sogar zielsicherer als die bisherige Teilhabe an von Kampfjets zu transportierenden taktischen Nuklearwaffen der USA, da französische Stand-off-Systeme die Abschreckung glaubwürdiger machen als die derzeitigen Freifallbomben. Mit der von US-Präsident Joe Biden beabsichtigten Begrenzung der nuklearen Abschreckung auf ausschließlich atomare Bedrohungen – der sogenannten „Sole Purpose“-Strategie der USA – müssten die europäischen Nato-Länder ohnehin ihre eigene Abschreckungsstrategie gegenüber nicht nuklearen Bedrohungen grundlegend überdenken.

Durch „Pooling & Sharing“ ihrer Fähigkeiten könnten die Europäer auch ihrer Diplomatie mehr Gewicht verleihen. Schon lange vor Putins Griff nach der gesamten Ukraine hatte Wolfgang Ischinger, einer der erfahrensten Diplomaten der machtvergessenen Bundesrepublik: „Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit.“

Aus einer Position der Stärke, sozusagen mit schlagkräftiger Diplomatie, könnten die europäischen Staaten glaubwürdiger mit Russland verhandeln und durch vertrauensbildende Maßnahmen sowie neue Initiativen in Richtung eines Systems kollektiver Sicherheit den Krieg und das Leid in der Ukraine beenden und auch das Risiko minimieren, dass Moskau und Washington sich – in einer möglichen zweiten Amtszeit Donald Trumps – auf Kosten der Europäer verständigen.

Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen der russischen Führung vorbeugen. Aber auch gegen die Launen einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft wären sie gewappnet.

Die Republikanische Partei, die einst den Kampf gegen den „gottlosen Kommunismus“ führte, beugt sich jetzt einem Führer, der Putin ein „Genie“ nennt. Wo es gälte, sich der russischen Aggression entschieden zu widersetzen, belobigen Trumps Anhänger bewaffnete Aufständische, die das US-Capitol angegriffen haben. Zusätzlich schleifen die Republikaner das Wahlrecht, um Trump eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Der Putin-Bewunderer Donald Trump könnte Geschichte sein – oder auch nicht. Eine Rückkehr ins Weiße Haus ist nicht ausgeschlossen. Doch ganz egal, wie der Kampf ums Oval Office 2024 ausgeht, die politische Landschaft der USA ist schon jetzt nicht mehr dieselbe wie noch unter Präsident Bill Clinton. Im innenpolitischen Kampf müssen auch die Demokraten die amerikanischen Interessen über die der Verbündeten stellen – „America first“.

Wem die liberale, sprich regelbasierte Weltordnung am Herzen liegt, sollte nicht auf Washington oder den Weltgeist hoffen, sondern sein Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen. Es ist das Gebot der Stunde, neben der militärischen Ertüchtigung auch Europas politische Einheit und damit auch den Wirtschafts- und Währungsraum im globalen geoökonomischen Wettbewerb zu stärken.

Europäische Staaten und institutionelle Anleger sollten ihre Kapitalreserven in den Euro sowie die ökonomische und militärische Ertüchtigung Europas investieren, um den Kontinent für den geo-ökonomischen Wettkampf zu wappnen. Nur der europäische Verbund gewährleistet Marktmacht und Handlungsoptionen, damit Europas Länder weiterhin selbstbestimmt wirtschaften und leben können. Ein tiefer, liquider Markt sicherer EU-Anleihen würde Zukunftsinvestitionen ermöglichen und wäre hilfreich, um den Euro zu einer globalen Leitwährung weiterzuentwickeln. Ein auf diese Weise gestärkter Euro würde der EU nicht nur wirtschaftliche Handlungsfähigkeit sichern, sondern auch die Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Dr. Josef Braml ist Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission und Autor des Buches „Die transatlantische Illusion“, das soeben beim Verlag C.H.Beck erschienen ist.