Transatlantisch ist gut, autark aber besser – der brutale russische Überfall auf die Ukraine sollte für Europa ein Weckruf sein

Wenn Europa seinen Wohlstand und seine Sicherheit im 21. Jahrhundert bewahren will, darf es seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht auf Illusionen aufbauen. Selbst auf die transatlantischen Beziehungen ist nicht zwingend Verlass, kommentiert USA-Experte Josef Braml in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung.

Leidenschaftliche Appelle, die nach dem Kalten Krieg entstandene regelbasierte europäische Ordnung zu verteidigen, wirken hilflos, weil diese Ära vorbei ist. Heute leben wir in einer „neuen“ Welt, in der, um Thukydides, einen der bedeutendsten antiken griechischen Geschichtsschreiber, zu zitieren, „die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erleiden, was sie müssen“.

Um nicht als weitere Opfer größerer Mächte in die Weltgeschichte einzugehen, müssen die europäischen Staaten die weltpolitischen Entwicklungen in der gebotenen Schärfe analysieren und darüber nachdenken, wie sie sich in der sich herausbildenden neuen Weltordnung behaupten können. Denn die Weltpolitik ist nicht erst seit Putins Angriff auf die Ukraine im Umbruch. Kann es sich Europa leisten, diesen Wandel zu ignorieren? Reicht es aus, die alten Rezepte und Strategien zu wiederholen, mit denen sich zumal die Bundesrepublik Deutschland die weltpolitischen Zumutungen in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger vom Hals gehalten hat?

Die transatlantische Illusion

Es gibt in letzter Zeit und vor allem seit Putins Attacke auf die Ukraine verstärkt Stimmen, die genau dies anzunehmen scheinen. Zentral ist ihre Forderung, die transatlantische Partnerschaft zu stärken. Wenn damit gemeint ist, intensive Beziehungen zu Washington zu pflegen und sich um einen verstärkten Austausch zu bemühen, so ist daran auch gar nichts falsch. Die USA waren und sind für Europa ein wichtiger Partner. Der Glaube allerdings, dass Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher dessen Sicherheit garantieren und unsere Interessen mit vertreten wird, ist eine Illusion. Es ist die transatlantische Illusion.

Im innenpolitischen Kampf müssen auch die Demokraten die amerikanischen Interessen über die der Verbündeten stellen – „America first“.

Und an wen würde sich Europa eigentlich binden? Am Vorabend der russischen Invasion konnten wohl zwei von drei Amerikanern die Ukraine auf einer Landkarte nicht finden. Die US-Bevölkerung befürwortete mehrheitlich, dass die USA sich aus den Verhandlungen über die Ukraine heraushalten sollten. Die Republikanische Partei, die einst den Kampf gegen den „gottlosen Kommunismus“ führte, beugt sich jetzt einem Führer, der Putin ein „Genie“ nennt. Wo es gälte, sich der russischen Aggression entschieden zu widersetzen, belobigen Trumps Anhänger bewaffnete Aufständische, die das US-Capitol angegriffen haben. Zusätzlich schleifen die Republikaner das Wahlrecht, um Trump eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.

Der Putin-Bewunderer Donald Trump könnte Geschichte sein – oder auch nicht. Eine Rückkehr ins Weiße Haus ist nicht ausgeschlossen. Doch ganz egal, wie der Kampf ums Oval Office 2024 ausgeht, die politische Landschaft der USA ist schon jetzt nicht mehr dieselbe wie noch unter Präsident Bill Clinton. Im innenpolitischen Kampf müssen auch die Demokraten die amerikanischen Interessen über die der Verbündeten stellen – „America first“.

Wem die liberale, sprich regelbasierte Weltordnung am Herzen liegt, sollte nicht auf Washington oder den Weltgeist hoffen, sondern sein Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen. Es ist das Gebot der Stunde, neben der militärischen Ertüchtigung auch Europas politische Einheit und damit auch den Wirtschafts- und Währungsraum im globalen geoökonomischen Wettbewerb zu stärken.

Weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Die Europäer werden zudem einen eigenen Weg finden müssen, das Verhältnis zu Russland und die damit verbundenen Risiken und Chancen zu handhaben. Denkbar – und historisch bewährt – ist die Kombination zweier Vorgehensweisen: Diplomatie und die durch Putins Vorgehen wieder evident sinnvoll gewordene glaubwürdige militärische Abschreckung.

Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen der russischen Führung vorbeugen. Aber auch gegen die Launen einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft wären sie gewappnet.

Mehr europäischer Gemeinsinn

Als Investition in die eigene Sicherheit sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken, um Europas Verteidigungsfähigkeit zu verbessern und seine industrielle Basis zu erhalten. In den nächsten beiden Jahrzehnten sind umfangreiche Ressourcen – schätzungsweise bis zu 300 Milliarden Euro – für das geplante französisch-deutsche Luftkampfsystem, das Future Combat Air System (FCAS), vonnöten, um Europas Souveränität im militärischen Bereich und im IT-Sektor zu stärken.

Es ist allerhöchste Zeit, die politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern. Denn nur ein einiges Europa, ein supranationaler Rahmen, gewährt europäischen Staaten die nötige Souveränität, um in der neuen Weltordnung selbstbestimmt wirtschaften und leben zu können. Der Eigensinn der um Weltmacht konkurrierenden russischen, amerikanischen und chinesischen Geostrategen nötigt Europas Einzelstaaten und seine Bürger zu mehr Gemeinsinn.

Zum Autor: Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, erscheint am 17. März beim Verlag C. H. Beck.