Deutschland braucht eine neue Außenpolitik

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Die nächste Bundesregierung muss die Interessen des Landes klarer definieren und besser durchsetzen, fordert Josef Braml in einem Gastkommentar im Handelsblatt. Denn der geoökonomische Wettbewerb wird härter.

Spätestens der Fall Afghanistans hat deutlich gemacht, dass eine Ära deutscher Außenpolitik an ihr Ende gekommen ist: das Durchlavieren auf internationaler Ebene im Schutz und Schatten der Supermacht USA. Die Vereinigten Staaten konzentrieren sich auf ihr nationales Interesse und die Auseinandersetzung mit China.

International agierende deutsche Unternehmen sind dabei ins Fadenkreuz geoökonomischer Rivalitäten der Großmächte USA und China geraten. Deutschland ist eine der international am meisten verflochtenen und somit eine der verwundbarsten Volkswirtschaften der Welt. Mit einer europäischen Politik sollte sich Deutschland stärker auf seine Interessen besinnen, um die noch vorhandenen wirtschaftlichen Machtressourcen zu stärken und international Gestaltungskraft zurückzugewinnen.

In der Handelspolitik wird am deutlichsten, dass Deutschland und die EU sich nicht mehr auf ihren traditionellen Status als Verbündete verlassen können – sondern wie alle anderen Staaten von den USA angehalten werden, Abkommen auszuhandeln, die vor allem amerikanische Interessen berücksichtigen.

Um dagegenzuhalten und als ebenbürtiger Verhandlungspartner ernst genommen zu werden, sollte die EU künftig besser mit dem Pfund ihrer Marktgröße wuchern. Durch Diversifizierung kann Europa seine Abhängigkeit vom US-Markt mindern, indem es weitere bilaterale und regionale Freihandelsabkommen abschließt.

Europa militärisch ertüchtigen

Um alternative Märkte zu öffnen und auch europäische Normen und Standards zu exportieren, sind weitere Anstrengungen nötig, um etwa die Verhandlungen mit den lateinamerikanischen (Mercosur) und asiatischen (Asean) Staaten sowie mit Australien, Neuseeland und Indien voranzubringen. Denn dieses weltweite Netz an Abkommen würde umso wichtiger, wenn das regelbasierte multilaterale Handelssystem, sprich die Welthandelsorganisation (WTO), weiter zerbrechen sollte.

Deutschland und Europa sollten sich besser abstimmen, um ihre wirtschaftliche Kraft stärker zur Geltung zu bringen. Die Bundesrepublik kann durch Verbesserung ihrer Binnennachfrage und durch weitere Investitionen vor allem im Bildungs-, Digital- und Energiebereich dafür sorgen, den Leistungsbilanzüberschuss abzubauen – auch im Interesse der europäischen Partner.

Die europäischen Staaten und institutionelle Anleger könnten ihre Kapitalreserven gewinnbringender und strategisch sinnvoller in den Euro und die ökonomische und militärische Ertüchtigung Europas investieren, statt weiterhin die exorbitante, aus dem Ruder laufende US-Staatsverschuldung zu finanzieren. Damit würden sie zudem den Kontinent für den geoökonomischen Wettkampf wappnen.

Nur der europäische Verbund gewährleistet Marktmacht und Handlungsoptionen, damit Europas Länder selbstbestimmt wirtschaften und leben können. Ein tiefer, liquider Markt sicherer EU-Anleihen würde Zukunftsinvestitionen etwa in die Digitalisierung und den ökologischen Umbau der Wirtschaft fördern und wäre hilfreich, um den Euro zu einer globalen Leitwährung weiterzuentwickeln. Ein starker Euro sichert der EU nicht nur wirtschaftliche Handlungsfähigkeit, sondern auch die Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Französisch-deutsches Luftkampfsystem

Um die in den USA immer deutlicher artikulierten Forderungen an die Verbündeten nach höheren Militärausgaben zu entkräften und in die eigene Sicherheit zu investieren, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund, aufstocken. Damit könnten sie Europas Verteidigungsfähigkeit verbessern und seine industrielle Basis erhalten.

In den nächsten beiden Jahrzehnten wären etwa umfangreiche Ressourcen – schätzungsweise bis zu 300 Milliarden Euro – für das geplante französisch-deutsche Luftkampfsystem, das Future Combat Air System (FCAS), nötig, um Europas Souveränität in militärischen und IT-Sektoren zu erhöhen.

Bislang gibt es auch noch keine gemeinsame Haltung europäischer Staaten gegenüber dem Ansinnen des chinesischen Tech-Giganten Huawei, seine 5G-Technologie in den Netzinfrastrukturen europäischer Länder zu integrieren – und diese, so insbesondere die Befürchtung Washingtons, für Chinas Einfluss und Spionage zu öffnen. Deutschland könnte durch seine Entscheidung für eine europäische Lösung (Anbieter wie Ericsson in Schweden und Nokia in Finnland) die Spaltung innerhalb der EU – und im transatlantischen Verhältnis – überwinden helfen.

Um nicht in die Zwickmühle der sino-amerikanischen Rivalität zu geraten, sollten die Europäer auch ihre Fähigkeiten stärken, souveräne Entscheidungen zu treffen, die auf eigenen Werten und Regeln basieren. Denn auch das marktbeherrschende Geschäftsmodell amerikanischer Onlineplattformen gefährdet die Sicherheit, den Wohlstand und die demokratische Qualität Europas. Die europäischen Wettbewerbshüter sind deshalb gut beraten, zumindest in Europa die Macht der großen amerikanischen und chinesischen Digitalunternehmen zu begrenzen.

Unabhängigkeit im Technologiesektor

Vor allem Unabhängigkeit im Technologiesektor bildet den Kern von Europas Souveränität und die Fähigkeit, autonom zu handeln. Um seine kollektive Sicherheit und Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, ist es erforderlich, dass Europa seine maritime, seine Energie- und Digitalinfrastruktur selbst kontrolliert und auch souverän jene Standards festlegt, die europäischen Unternehmen auferlegt werden.

Es wäre auch im gesamteuropäischen Interesse, gemeinsam gegen die machtpolitisch unterfütterte Marktdominanz amerikanischer und chinesischer Großkonzerne beim Ausbau der Internet-Infrastruktur in Europas Nachbarschaft vorzugehen. Wem Unterwasserkabel gehören und welche Routen sie nehmen, sind zu Machtfragen eines härter werdenden geoökonomischen Wettbewerbs zwischen den USA und China geworden, bei dem Europa bislang das Nachsehen hat.

Dabei spielen Unterwasserkabel eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit: Unternehmen und Staaten können auf Informations- und Finanzdaten zugreifen, die über die von ihnen verwalteten digitalen Kabel übertragen werden. So verdanken die USA ihre wirtschaftliche und militärische Dominanz der Beherrschung der zivilen und militärischen Nutzung von jeweils neuen Kommunikationsformen, darunter Radio, Fernsehen, Satelliten und Internet.

Grundvoraussetzung für all diese Instrumente europäischer Souveränität ist eine an gemeinsamen Interessen orientierte strategische Kultur. Denn bislang hat die Unfähigkeit der Europäer, über ihre souveränen Interessen gemeinsam nachzudenken und zusammenzuarbeiten, anderen Mächten die Möglichkeit gegeben, Europa zu spalten und zu schwächen.

Erst ein umfassendes strategisches Verständnis ermöglicht es der EU, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu bündeln und damit auch mehr wirtschaftliches und außenpolitisches Gewicht in einer „neuen“, bislang von den Interessen anderer bestimmten Weltordnung zu entfalten.

Wenn die Europäische Union ein Global Player und nicht Spielball anderer Mächte sein will, sollte sich die nächste Bundesregierung mehr für die Champions League und weniger für die Bundesliga interessieren.

Der Autor: Dr. Josef Braml ist Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission – einer Plattform für den Dialog politischer und wirtschaftlicher Entscheider Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Aktuelle Analysen veröffentlicht er auch über seinen Blog „usaexperte.com“.

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