US-Wahl 2024: Das Ende der transatlantischen Illusion

Donald Trumps Comeback als US-Präsident wird zunehmend realistisch, derzeit liegt er in Umfragen gegen Joe Biden knapp vorne. Das nötigt die Europäer umso mehr, sich von der transatlantischen Illusion zu befreien und ihre Interessen selbstständiger zu verteidigen, analysiert der USA-Experte Josef Braml für The Pioneer.

Kaum ein Beobachter hätte gedacht, dass Donald Trump, der Verlierer der US-Präsidentschaftswahlen 2020, vier Jahre später gute Chancen haben würde, erneut ins Weiße Haus zu gelangen. Hatte er doch mit der Lüge, ihm sei der Wahlsieg gestohlen worden, den Mob zum Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 aufgewiegelt. Angesichts dieser dramatischen Bilder waren sich die Experten einig: Als an diesem geschichtsträchtigen Tag die US-Demokratie vor dem Abgrund stand, musste das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen. Selbst die hartgesottensten Trump-Unterstützer würden sich nunmehr von ihrem Volkstribun distanzieren, so die einhellige Meinung, zumal dieser seine wahren autokratischen Neigungen gezeigt hatte.

Auch der amtierende US-Präsident Joe Biden lebt in einer Illusion, wenn er seinen Wahlkampf weiterhin darauf fokussiert, die amerikanische Demokratie vor Donald Trump retten zu wollen. Denn diese Strategie, mit der der Amtsinhaber von seinen schlechten Umfragewerten ablenken will, verfängt bei immer weniger seiner Landsleute. Den meisten Amerikanerinnen und Amerikanern ist ihr eigenes Hemd näher als diese institutionelle Jacke. Sie sorgen sich um ihr wirtschaftliches Auskommen und befürchten, sozial abzusteigen, auch gegenüber illegalen Einwanderern, die ihnen die Jobs wegnehmen könnten.

„America First“

Die Fokussierung auf innenpolitische Spalt-Themen – die Trump im Wahlkampf weiter forcieren wird – bedeutet auch, dass sich die meisten US-Wählerinnen und Wähler weniger um die Probleme in der Welt kümmern. Jene Nation die zwei Jahrzehnte davor auf dem Zenit ihrer Macht noch selbstbewusst die Welt durch Öffnung der Märkte demokratisieren wollte, versucht sich nunmehr mit Grenzmauern und Zöllen vor der Weltwirtschaft zu schützen.

Trumps „America First“-Wirtschafts- und Handelspolitik wurde von seinem Nachfolger Biden weiter forciert – vor allem auch gegenüber den Alliierten in Europa. Biden setzte auch Trumps Idee des schnellen Abzugs von US-Truppen aus Afghanistan in die Tat um – mit verheerenden Folgen: Das Land, in dem auch die Europäer über zwei Jahrzehnte ihre Sicherheit verteidigten, wurde von einem Tag auf den anderen sich selbst und den Terroristen überlassen.

Der überstürzte Abzug erinnerte an das Jahr 1973 als die Amerikaner nach jahrelangem Krieg Vietnam verließen. Diese weitere unrühmliche Niederlage des Westens könnte auch ein Signal der Schwäche nach Peking und Moskau gesendet haben. Nachdem die USA und ihre europäischen Alliierten zuvor schon wenig Gegenwehr geboten hatten, als Russland 2014 die Krim vereinnahmte, konnte der russische Präsident Wladimir Putin auch 2022 bei seinem zweiten Angriffskrieg auf die Ukraine davon ausgehen, dass der Westen ihn auf längere Sicht nicht daran hindern würde, seine imperialen Träume zu verwirklichen.

Wer die Geschichte, das politische System der USA und die begrenzte Geduld der US-Bevölkerung, zumal für Kriege auf dem weit entfernten „Alten Kontinent“, kennt, hätte sich auch nicht der Illusion hingeben dürfen, dass die USA für Europa auf lange Sicht jene Sicherheitsleistungen erbringen würden, zu denen die meisten Europäer viele Jahre selbst nicht bereit waren, weil sie ihre „Friedensdividende“ lieber in Sozialleistungen investiert haben.

Das Ende der „Friedensdividende“

Insbesondere die Verantwortlichen der Berliner Republik verharrten allzu lange im Zeitgeist der deutschen Wiedervereinigung und vertrauten in ihrem Fortschrittsglauben, trotz zwischenzeitlicher Rückschritte, weiterhin dem „Weltgeist“ der Geschichte. Jedoch wurde das nach dem Untergang des Systemrivalen Sowjetunion von der westlichen Glaubensgemeinschaft gefeierte „Ende der Geschichte“ – der weltweite Sieg liberal-demokratischer Herrschaft und freier Marktwirtschaft – von der Geschichte auf ironische Weise widerlegt: Donald Trumps autoritäre Herausforderung der US-Demokratie und nationalistische Wirtschaftspolitik waren deutliche Anzeichen eines neuen Systemwettbewerbs zwischen der angeschlagenen Weltmacht USA und dem immer selbstbewusster auftretenden China.

Vor allem auch weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen werden die USA ihre europäischen Verbündeten stärker in die Pflicht nehmen, mehr für ihre Landesverteidigung gegen ein revanchistisches Russland und den Wiederaufbau der Ukraine auszugeben.

Unter einem möglichen Oberbefehlshaber Trump wären die NATO und das Schutzversprechen der USA gegenüber Europa nicht mehr viel Wert. Die Europäer müssten umso mehr für ihre eigene Sicherheit investieren.

Doch es geht jetzt nicht darum, die häufig bemühten „zwei Prozent“ der Wirtschafsleistung möglichst für amerikanische Militärgüter auszugeben, um eine durchaus denkbare US-Regierung unter Donald Trump zu beschwichtigen. Dies wäre genauso nachhaltig, wie auf Schutzgelderpressungen einzugehen. Wenn die Europäer nicht Amerikas „tributpflichtige Vasallen“ bleiben wollen – um eine etwas diplomatischere Beschreibung von US-Präsident Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński zu bemühen –, sollten sie sich selbst behaupten und verteidigen lernen und die dafür nötigen Mittel aufbringen.

Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen einer möglichen zweiten Trump-Regierung oder auch der russischen Führung vorbeugen.

Das „Butter versus Kanonen“-Dilemma

Angesichts der angespannten Haushaltslage in vielen europäischen Ländern wäre indes jeder Euro, der an Sozialleistungen (Butter) eingespart und für Rüstung (Kanonen) oder den Wiederaufbau der Ukraine investiert würde, eine weitere Stimme für jene extremistischen Parteien, die ohnehin schon wegen der Unfähigkeit der Politik, drängende Probleme zu lösen, an den Wahlurnen profitieren.

Gemeinsame Schulden, um Europa militärisch zu ertüchtigen und den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, würden das „Butter versus Kanonen“-Dilemma entschärfen. Anstatt ihre durch die im Handel verdienten Währungsreserven und Ersparnisse weiterhin dafür zu verwenden, Amerikas Wirtschaften und Rüsten auf Pump zu finanzieren, könnten europäische Staaten und institutionelle Anleger ihre Kapitalreserven in den Euro sowie die ökonomische und militärische Ertüchtigung Europas investieren, um den Kontinent für den geoökonomischen Wettkampf zu wappnen. Nur der europäische Verbund gewährleistet Marktmacht und Handlungsoptionen, damit Europas Länder weiterhin selbstbestimmt wirtschaften und leben können.

Ein tiefer, liquider Markt sicherer EU-Anleihen, die angesichts der exorbitanten US-Staatsverschuldung internationalen Anlegern eine Möglichkeit zur Risikodiversifizierung böten, würde den Europäern auch andere Zukunftsinvestitionen, etwa in eigene digitale Infrastruktur, ermöglichen und wäre hilfreich, um den Euro zu einer globalen Leitwährung weiterzuentwickeln. Ein auf diese Weise gestärkter Euro würde der EU nicht nur wirtschaftliche Handlungsfähigkeit sichern, sondern auch die Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Freilich sollte diese künftig nicht mehr wegen des Einstimmigkeitsprinzips von Einzelnen blockiert werden können. Eine an gemeinsamen Interessen orientierte effektivere Entscheidungsfindung ist unabdingbar. Denn bislang hat die Unfähigkeit der Europäer, über ihre souveränen Interessen gemeinsam nachzudenken und zusammenzuarbeiten, anderen Mächten die Möglichkeit gegeben, Europa zu spalten und zu schwächen. Erst ein umfassendes strategisches Verständnis ermöglicht es der EU, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu bündeln und damit auch mehr wirtschaftliches und außenpolitisches Gewicht in einer „neuen“ bislang von den Interessen anderer bestimmten Weltordnung zu entfalten.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte und European Director der Trilateral Commission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens. Zuletzt erschienen beim Verlag C.H.Beck sein mit Mathew Burrows verfasstes Buch „Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern“ und sein weiterhin aktueller Bestseller „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“.