Warnung vor Illusionen: USA werden für Europa nicht die Kohlen aus dem Feuer holen

In Joe Bidens Rede über die Lage der Nation dominierte der Krieg in der Ukraine. Dabei steht der US-Präsident vor einer ungleich größeren Herausforderung im eigenen Land, wie USA-Experte Josef Braml im Interview mit Julian Weinberger für das Schweizer Internetportal „blue News“ erklärt.

Erst die Corona-Pandemie, dann das außenpolitische Debakel in Afghanistan und nun der Krieg in der Ukraine: Joe Bidens bisherige Amtszeit ist von Krisen gepflastert. Dementsprechend war es nicht verwunderlich, dass auch seine Rede über die Lage der Nation von vergangener Nacht davon geprägt sein würde.

In der Tat sprach der US-Präsident angesichts der täglich neuen Schreckensmeldungen ausführlich über die Situation in der Ukraine und sendete klare Botschaften in die Richtung von Wladimir Putin: „Putin hat Gewalt und Chaos entfesselt. Aber während er auf dem Schlachtfeld vielleicht Gewinne erzielt, wird er langfristig einen hohen Preis zahlen“.

Dabei erwartet den 79-Jährigen auch daheim in den USA eine harte Prüfung. Die voranschreitende Inflation bereitet den Amerikanerinnen und Amerikanern zunehmend Sorge, und bei den Kongresswahlen im November droht den Demokraten eine schmerzhafte Wahlniederlage. 

Im Gespräch mit „blue News“ ordnet der USA-Experte Josef Braml den Auftritt von Joe Biden ein. Außerdem erklärt er, wie der Ukraine-Krieg das machtpolitische Gefüge der westlichen Welt verändert und weshalb Biden beim Kampf gegen die Inflation einen verhängnisvollen Kurs eingeschlagen hat.

Herr Braml, wie beurteilen Sie Joe Bidens Rede zur Lage der Nation?

Für Bidens Verhältnisse war der Auftritt gut. Er hat keine größeren Fehler gemacht. Es hätte schlimmer sein können.

Bislang hat sich Joe Biden mit Blick auf den Ukraine-Krieg in Zurückhaltung geübt. Was steckt hinter dieser Strategie?

Er hat in dieser Rede zwei Probleme. Er hat die Front in der Ukraine gegen die Russen, und er hat die Heimatfront. Letztere ist für ihn bedrohlicher. Der Umgang mit der Ukraine ist in den USA nicht so einheitsfördernd, wie er das gerne hätte. Es hat keinen „Rally around the flag“-Effekt gegeben, also keinen patriotischen Sammlungseffekt, bei dem sich die Amerikaner parteiübergreifend um ihren Kriegspräsidenten scharen.

Die Mehrheit der Amerikaner will, dass sich Biden ganz raushält. Er hat nicht viel innenpolitisches Kapital, das er aber braucht, um andere politische Probleme zu lösen – nicht die weit entfernten Probleme in Europa, sondern die zu Hause.

Was sind die Folgen?

Biden muss sehr vorsichtig sein. Er hat zwar gesagt, dass die USA für die Freiheit und gegen die Tyrannei stünden. Er hat aber nichts angekündigt, was Russland wirklich bedrängen würde, etwa härtere Sanktionen im Energiebereich. Damit würde Biden sich selbst und den Geldbörsen der US-Bevölkerung schaden und die Inflation weitertreiben.

Wie ist in diesen unruhigen Zeiten um die Führungsstärke des US-Präsidenten bestellt?

Die Mehrzahl der Amerikanerinnen und Amerikaner machen sich Sorgen, ob er geistig noch wirklich voll da ist. Das ist sehr beängstigend. Seine Landsleute trauen ihm nicht wirklich Führungsstärke zu, vor allem beim wichtigsten Thema Wirtschaft. Das zeigen auch die schlechten Umfrageergebnisse zuletzt. Nur einer von fünf Amerikanern glaubt, dass die USA auf dem richtigen Weg sind.

Welche Signalwirkung geht von den Kongresswahlen im November aus?

Die Zwischenwahlen könnten Biden die letzte Handlungsfähigkeit nehmen, wenn er eine oder womöglich beide Kammern im Kongress verliert. Dann wäre er blockiert und könnte über den gesetzgeberischen Weg nichts mehr ausrichten. Es liegt teilweise an Biden selbst, seiner mangelnden Vitalität, aber eben auch an den politischen Strukturen in den USA. Selbst der dynamische Barack Obama wurde nach seinen ersten beiden Jahren im Amt mehr oder weniger ausgebremst.

In seiner Rede hat Joe Biden die Einheit der Nato beschworen. Wie stark ist dieses Bündnis in Krisenzeiten?

Er hat den Amerikanern gesagt, er habe unzählige Stunden damit verbracht, die Einigkeit herzustellen. Das mag so sein, aber ich glaube, dass die Europäer hier den Schuss viel lauter gehört haben. Die europäischen Länder fühlen sich viel bedrohter. Nicht umsonst hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt 100 Milliarden Euro für militärische Rüstung in die Hand genommen. Ich glaube, Bidens größeres Problem ist, die eigenen Landsleute hinter sich zu bringen. Der Schwachpunkt innerhalb der Nato sind nicht die Europäer, sondern die Führungs- und Schutzmacht.

Wie meinen Sie das?

Ich warne vor der Illusion, die USA würden die Kohlen für uns aus dem Feuer holen. Die sind innenpolitisch mit sich selbst beschäftigt. Was sie international noch interessiert, ist nicht Europa, sondern die Zukunftsregion Asien, wo mit China ein wirtschaftlicher und militärischer Herausforderer bedrohlich wirkt. Amerikas Hinwendung nach Asien sollten wir sehr ernst nehmen, denn die USA haben es nicht im Kreuz, beide Fronten zu bedienen. Früher oder später werden sich die USA mit Russland ins Benehmen setzen müssen, um es nicht weiter in Chinas Arme zu treiben.

Wie wird der Ukraine-Krieg das machtpolitische Gefüge in der westlichen Welt verändern?

Er wird die Amerikaner nötigen, ihre Ressourcen gezielt einzusetzen. Es ist nicht auszuschließen, dass China ebenso jetzt Amerikas Schwäche nutzen wird. Putin geht ja nicht vor, weil er ein totaler Hasardeur ist. Er hat gemerkt, dass die Führungsmacht schwächelt. Der schamlose Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, der an Vietnam erinnert hat, hat ein Zeichen der Schwäche gesendet.

Auch in puncto Syrien hatte Trumps Vorgänger Obama rote Linien gezogen, die dann rosarot wurden. Die Saudis lassen sich nicht mehr dazu nötigen, mehr Öl zu pumpen, damit die Preise runtergehen. Amerika hat das Vertrauen in seine Verlässlichkeit verspielt, die es der früheren Schutzmacht ermöglichte, von anderen Tribut zu fordern.

In seiner Rede hat Joe Biden dem Kampf gegen die Inflation „Top-Priorität“ eingeräumt …

Ich fürchte, dass er, indem er die Inflation löschen will, eigentlich das falsche Mittel wählt. Er hat weiteres Benzin auf ein bereits loderndes Feuer gegossen. Ich glaube, die Amerikaner haben noch nicht verstanden, dass ihre Politik des Entkoppelns von China, das Zerstören von Lieferketten und das Vorantreiben von Protektionismus das Gegenteil bewirken. Da wird Wirtschaft als Waffe eingesetzt und politisch manipuliert. Genau das ist aufgrund des mangelnden Güterangebots in Folge der Störung von Lieferketten inflationsfördernd.

Wie versuchen rechte Kräfte in den USA, die aktuellen Krisen für sich zu nutzen?

Mit Wirtschaftsnationalismus. Republikaner, die früher für Freihandel standen, folgen nunmehr Trump, der dieses „America First“ hoffähig gemacht hat, weiter willfährig. Es ist auch bezeichnend, dass Republikaner einst gegen gottlose Kommunisten ins Feld gezogen sind und jetzt einem Trump folgen, der Putin als Genie bezeichnet. Es gibt nur wenige Republikaner, die keine Angst vor ihm haben und sich aus der Deckung wagen. Trump hat seine Partei nach wie vor fest im Griff.

Was droht den USA, wenn die Republikaner oder Trump bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wieder ins Weiße Haus einziehen sollten?

Zunächst einmal besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Republikaner eine oder womöglich beide Kammern im Kongress zurückholen und damit Biden blockieren. Das wird dafür sorgen, dass die Wahrscheinlichkeit für Bidens Abwahl weiter steigt.

Wenn nicht Trump kommt, dann vielleicht einer, der die gleichen Neigungen hat, aber sehr viel fokussierter ist. Ich glaube, wir hatten mit Trump noch Glück, dass er narzisstisch wie er war, nur mit sich selbst zu tun hatte. Aber es gibt andere Republikaner, die seine „America First“-Politik sehr viel konsequenter durchziehen würden.

Welche Chancen hat Joe Biden noch, bei den Wählern bis zu den Zwischenwahlen im November zu punkten?

Er braucht Glück, dass die Wirtschaft nicht noch weiter abschmiert. Er braucht Glück, dass diese prekäre wirtschaftliche Lage nicht zum Super-GAU führt. Wir haben das Problem, dass die US-Notenbank die Inflation lange ignoriert hat. Eigentlich hätte man schon sehr viel früher entschleunigen müssen, indem man weniger Geld druckt, oder durch Zinsanhebungen bremsen müssen. Wer jetzt nicht handelt, der fährt mit voller Geschwindigkeit gegen die Wand.

Zur Person: Dr. Josef Braml ist USA-Experte und Autor des Buches „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“, das am 17. März beim Beck-Verlag erscheint.