Deutschland braucht einen Sicherheitsrat

Mangels institutioneller Voraussetzungen verfügt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik noch nicht über ein nationales Strategiekonzept. Dabei ist es höchste Zeit dafür. Denn die innerlich geschwächten USA werden zugunsten einer Weltordnung amerikanischer Prägung Europas Sicherheitsinteressen noch mehr vernachlässigen, schreibt der USA-Experte Josef Braml in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).

Nach dem Einmarsch der Taliban-Kämpfer in Kabul bleibt die Sorge begründet, dass das sich entfaltende Chaos in Afghanistan wieder mehr Raum für Terroristen schaffen sowie eine große humanitäre Katastrophe mit neuen Flüchtlingsströmen nach Europa auslösen könnte.

Amerikas Verbündete weisen die Verantwortung von sich und beschweren sich, dass sie nicht rechtzeitig zu einer eigentlich vorhersehbaren politischen Entscheidung des US-Präsidenten Biden konsultiert wurden, was Europas Sicherheitsinteressen gefährdet.

Der reine Fokus auf starke Staaten

Amerikas Anspruch, eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, wird die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen. Denn sie wird ihre zunehmend knapper werdenden Ressourcen in der Region Asien/Pazifik bündeln, um dort der aufsteigenden Macht China zu begegnen, das in Ostasien Amerikas Hegemonie herausfordert. Der Fokus auf starke Staaten blendet prekäre oder zerfallende Staaten wie Afghanistan aus, die nach 9/11 als die größten Gefahrenherde galten, weil sie Operationsräume für terroristische Aktivitäten ermöglichten.

Deutschland hat sich an Auslandseinsätzen wie jenem in Afghanistan vorwiegend nur deswegen beteiligt, weil es sich von anderen, allen voran den USA, aus Solidaritätsgründen dazu gedrängt fühlte; ein eigenes Konzept ist bis heute nicht erkennbar. Zuweilen lobte man sich in Berlin dafür, die Amerikaner mit dem über militärische Stabilisierung hinausgehenden „umfassenden Ansatz“ eines Besseren belehrt zu haben. Dabei verkannte man aber, dass der Anspruch, bei Stabilisierungs- und Friedenseinsätzen einen gesamtstaatlichen oder gar vernetzten Ansatz zu verfolgen, den eigenen Regierungsapparat überforderte: Die in diesem Feld tätigen Fachministerien versuchten oft widersprüchliche Ziele umzusetzen.

Schritt halten mit den USA, Frankreich und Großbritannien

Zwar gäbe es mit dem Bundessicherheitsrat ein Organ, das dafür prädestiniert wäre, Unstimmigkeiten zwischen den Ressorts auszuräumen und einen gesamtstaatlichen Ansatz vorzugeben. Dieses Gremium hat sich ab den 1980er Jahren im Wesentlichen auf Rüstungsexportfragen beschränkt. Krisenprävention, Entwicklungspolitik, zivile und militärische Krisenbewältigung, ja deutsche Außenpolitik insgesamt müsste besser koordiniert werden. Im Bundeskanzleramt könnte ein übergreifender Lage-, Koordinierungs- und Entscheidungsstab unter der Leitung eines Beraters für nationale Sicherheit eingerichtet werden.

Ein nationaler Sicherheitsrat könnte die von zerfallenden Staaten ausgehenden internationalen Gefahren und Entwicklungen, zum Beispiel Terrorismus beziehungsweise Migration, beobachten und in Kooperation mit externen Think-Tanks analysieren. Eine derartige Koordinationsleistung wäre erforderlich, um auch künftig mit anderen Regierungen wie jenen der USA, Großbritanniens und Frankreichs gesprächsfähig zu bleiben, die ihrerseits auf umfassendere Strukturen und Analysen zurückgreifen können.

Mangels institutioneller Voraussetzungen verfügt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik noch nicht über ein nationales Strategiekonzept. Zuweilen wird argumentiert, die Bundesregierung bedürfe eines solchen auch nicht, da es die Europäische Sicherheitsstrategie gebe. Das hindert jedoch auch andere europäische Länder wie Frankreich nicht daran, vorausschauend über eigene nationale und europäische Interessen nachzudenken. Mangels einer Strategie für nationale Sicherheit begnügen wir uns in Deutschland alle Jubeljahre mit Weißbüchern, die nicht der kontinuierlichen Beratung für Politik und Öffentlichkeit dienen können.

Im Wahlkampf stiefmütterlich behandelte Außenpolitik

Eine ressortübergreifende politische Infrastruktur und eine fortwährende Debatte über eine nationale Strategie im europäischen Kontext würden der deutschen Politik vielmehr helfen, sich über die eigenen Interessen, Werte und erreichbaren Zielsetzungen zu verständigen und diese legitimationsstiftend zu kommunizieren. Durch ihre kommunikative Zurückhaltung überlässt die deutsche Politik den (internationalen) Medien und mediengeübteren anderen Regierungen die Diskurshoheit und somit die Deutungsmacht über die Interessen und Werte Deutschlands.

Auch im derzeitigen politischen Wahlkampf hat Außenpolitik bisher eine untergeordnete Rolle gespielt. Das ist bemerkenswert für ein Land, dessen Sicherheit gefährdet ist und dessen international verflochtene Wirtschaft wegen absehbarer außenpolitischer Entwicklungen in größere Schwierigkeiten zu geraten droht. Die nächste Bundesregierung wird grundlegende Fragen zur Neuorientierung deutscher Außenpolitik beantworten müssen. Die Problematik geht über die eigene bundesdeutsche Komfortzone hinaus und stellt bisherige Denk- und Arbeitsmuster der Berliner Republik infrage.

Dr. Josef Braml ist USA-Experte des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission. Aktuelle Analysen veröffentlicht er auch über seinen Blog „usaexperte.com“.